Montag, 11. Oktober 2010

Herbst

Jedes Jahresquartal hat seine Extremitäten. Der Herbst ist besonders anstrengend wegen dem vielen Dreck, um den man sich kümmern muss. Da sind zum Beispiel die Kastanien.

Schräg gegenüber unserer Wohnung steht einer von diesen Monsterbäumen, und jeden Oktober lässt er einfach alles fallen. Erst geht’s noch um Sparsamkleckerei, immer mal ’n Einzelabwurf mit viel Abstand dazwischen, aber dann kommt plötzlich alles auf einmal runter. Drum herum ist der ganze Rasen vollgemüllt. Manchmal kommen Kinder und nehmen ein paar Kastanien mit. Zu Hause stecken sie Streichhölzer rein und klatschen vor Freude in die Hände wegen Einbildung, es täte sich um ein Pferd handeln oder um ein Känguru. Und leerer wird der Rasen deswegen noch lange nicht. Ich tu ja schon mein Bestes, werfe regelmäßig mit den Dingern nach den Tauben auf den Fensterbrettern, aber erstens kriege ich damit trotzdem keine vollständige Müllbeseitigung hin, und zweitens hat sich unsere Nachbarin, diese blöde Meckerpetze ausm ersten Stock, bei der Mama beschwert, weil das ewige „Peng“ gegen die Scheibe ihr Verhinderung am Radiokonzert bereite. Da kam’s gerade recht, dass ich im Wochenblatt einen Bericht lesen tat. Darin stand geschrieben, dass der Zoo Eicheln und Kastanien annimmt für die Winterfütterung von den Hirschen und Wildschweinen. Kinder täten ihre Sammlungen dort abgeben können und würden sogar eine kleine Belohnung dafür erhalten. Na, wenn das keine Rettungsnachricht war.

Ich habe gleich all unsere Plastiktüten aus dem Klofenster geworfen und bin hinterhergeflogen. Bis auf eine Tüte, die mit einem Fahrradgepäckträger weggefahren ist, habe ich alle wiedergefunden. Dann bin ich einsammeln gegangen. Die Bückerei tat ganz schön Strapaze anrichten. Zusätzliche Erschwernis machten mir die beiden Blödtauben, die sich auf ’nen Ast gesetzt hatten und mit den Restkastanien nach mir zielten.
„Knödelarsch!“, taten sie rufen. „Klapp mal deinen Schwanz beiseite, damit wir besser treffen.“
Ich habe so getan, als täte ich’s nicht merken, vor allem weil ich keine Zeit hatte für stehendfüßige Abrechnung. Am Ende lehnten acht Tüten randvoll mit Kastanien am Stromkasten neben dem Rasen. Der Riesenschnauzer aus der Bentheimer Straße hatte sie mir dorthin geschleppt gegen 2 Euro Transportpauschale. Jetzt musste ich nur noch zusehen, wie ich das Zeug in den Zoo kriegte.

Mit der Straßenbahn fahren wäre nicht gegangen, selbst wenn die Mia beim Schleppen mitgemacht hätte. Es half alles nichts, ich bin schnell nach Hause geflogen und habe nach ’nem Taxi telefoniert. Dann habe ich 15 Euro aus der Notfalldose in der Küche genommen. Aber nicht, dass jemand jetzt denkt, ich hätte geklaut – natürlich nicht! Selbstverständlich hatte ich der Mama einen Zettel dazugelegt, damit sie Bescheid wusste. „Tu’s mir vom Erbe abziehen“, stand drauf. Anschließend bin zurück zu den Kastanientüten geflogen. Ich brauchte nicht lange zu warten, da tat schon das Taxi anhalten.

Der Fahrer hatte mich allerdings nicht gesehen; er ist im Wagen hocken geblieben. Ich musste erst ein paar Kastanien ans Seitenfenster kicken, bis er aussteigen tat. Sein Kopf war ziemlich rot.
„Hier!“, habe ich gerufen und mit den Flügeln gewinkt. „Hier bin ich – hier!“
Nach einiger Suchguckerei hatten seine Augen mich endlich gefunden. Leichtes Überraschungsgrinsen beschenkte seine Mundwinkel nun mit einem viel freundlicheren Aussehen.
„Ja, darfst du denn schon allein verreisen?“, fragte er mich. Braune Schuhe mit dicker Schwartensohle trug er.
„Na, klar“, habe ich geantwortet. „Ich bin schon sieben. Und hier ist mein Geld.“ Dabei habe ich mit den Geldscheinen zu ihm hoch gewedelt.
„Und wo willst du hin?“, wollte er wissen.
„Zum Zoo, die Kastanien hinbringen.“

Der Fahrer hat auf meine Tütensammlung geguckt und dann wieder gegrinst. Wortlos tat er zugreifen und die Tüten in den Kofferraum packen. Hoffentlich würde unterwegs nichts umkippen, dachte ich, habe aber nichts gesagt, sondern gewartet, bis man mir die Tür aufmachte und mich auf den Beifahrersitz heben tat.
„Du musst dich aber anschnallen“, kriegte ich Anweisung.
Der Sicherheitsgurt wurde um mich gezogen und in den Verschluss geklickt. Das Band machte mir arge Strangulation am Bauch. Ich musste mich etwas zur Seite drehen, damit mein Schwanz keine Abknickung erfuhr. Nach einigem Gewurschtele ging’s dann einigermaßen. Wir waren längst unterwegs. Sehen konnte ich nicht viel von meiner Niedrigposition aus, nur den Himmel und manchmal vorbeiziehende Dächer. Dafür hat der Fahrer umso mehr geredet. Von den Meerschweinchen seiner Enkelin hat er berichtet. Dass die total süß wären, aber nicht allein nach draußen dürften was unternehmen so wie ich. Und sprechen täten die auch nicht. Dabei hat er mich voller Vorwurf angeguckt, so als müsste ich die Antwort wissen, warum seine blöden Karottennager stumm sind oder andersherum die Menschen so taub an der Bildung, dass sie das Nager-Gerede nicht verstehen. Stattdessen habe ich aber nur gesagt:
„Leider tu ich mich nicht auskennen mit der Felltier-Linguistik.“
Da war dann Ruhe und nichts mehr zu hören außer dem Klickklack-Klickklack vom Blinker. Menschen sind manchmal ’n bisschen komisch, wenn man ihren die Wahrheit antwortet.

Als wir angekommen waren, musste ich erst warten, bis der Fahrer die Tüten ausgeladen hatte. 13,40 Euro kostete die Fahrt; Trinkgeld hatte ich nicht übrig. Ich wurde einfach gegrabscht und auf den Bürgersteig gesetzt. Die Tüten standen zu einem Rondell geordnet daneben. Soweit ich es beurteilen konnte, fehlte nichts. Okay, das wäre geschafft – nächster Schritt.

Bis zum Eingang war es aber noch ein bisschen hin und niemand in der Nähe, der mir beim Tragen hätte helfen können. Zwar kam ’ne Schulklasse vorbei in Zweierreihe und Artigschritt, doch da habe ich lieber Deckung genommen hinterm Abfalleimer: Kinder tatschen mich ja doch nur ab und sabbeln mit voll mit ihren dämlichen Fragen: wie ich heißen tu, ob ich fliegen kann, was ich gern esse und ob ich spreche. Das konnte ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen.

Es blieb mir nichts übrig, als zum Kassenhäuschen zu fliegen und dort um Hilfe zu bitten. Die Ticket-Tante ist zusammengezuckt, als ich vor ihrer Scheibe landen tat.
„Bist du von uns?“, hat sie gekreischt. „Bist du abgehauen?“
Nee, habe ich geantwortet, ich wäre kein Knacki, nur Besuch wegen Abliefern von Wintervorrat – ob mal jemand mit anpacken täte. Irgendwann hatte sie sich erholt und machte Durchsage in den Telefonhörer. Bald darauf kam ein Mann in grüner Arbeitslatzhose und Gummistiefeln. Er hat nicht viel Aufhebens gemacht, sondern mich hochgehoben und gefragt:
„Wohin?“
Ich habe ihm Richtungsweisung gegeben, und als wir an den Tüten angekommen waren, hat er mich abgesetzt, die Henkel gegriffen und wollte abhauen. Hey, habe ich gesagt, was wäre mit meiner Belohnung.
„Belohnung ist ’ne Führung durch unsere Schauställe. Willst du mitkommen, Kühe und Ferkel ansehen?“, hat er Information gegeben.

Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Da schleppt man sich ab, macht Kriechsammelei, bis einem der Rücken durchbiegt, bezahlt Geld, damit man alles an Ort und Stelle schafft, und dann soll man sich für Dankeschön alberne Stallrinder und Rüsseltiere angucken. Nee, habe ich gebrüllt, so nicht! Nicht mit mir. Ich will meine Belohnung haben.

Der Pflegemann stand noch immer da. Ratlose Renitenz tat seine Mimik ausfüllen. Eine andere Belohnung gäb’s aber nicht, machte er nun Behauptung und zuckte mit den Achseln.
„So nicht mit mir!“, habe ich gebrüllt. „Ich bin extra aus Kassel gekommen – mit dem ICE. Was glaubst du wohl, was das kostet! Ich will ’ne anständige Belohnung haben, eine, wo Würde und Verhältnis Ausdruck finden, und  will nicht abgespeist werden mit ’ner Rumführerei durch miefige Vierbeiner-Unterkünfte.“
„Tja …“, war nun zu hören. Dann kramte der Pfleger in seinen Taschen herum und holte ’nen Lutscher hervor. Er hielt ihn mir hin.
„Geht der?“, fragte er.
Ich machte kurze Überlegung. Schließlich tat ich zugreifen. Der Mann zog ab mit meinen Tüten.

Ich habe dann noch lange auf dem Mauerchen neben dem Eingang gesessen. Die Sonne schien so schön, tauchte alles in Sanftheit und Seufzen. Es wurde mir ganz kuschelig unterm Gefieder, aber dann wieder drängte sich Gänsehaut in den Vordergrund wegen Lust am Sehen und Spüren. Manchmal kamen Leute vorbei und taten tuscheln. Ich kümmerte mich nicht darum. Der Lutscher schmeckte nach Apfelsine. In der Mitte war Brausepulver. Ich glaube, es war der beste Lutscher, den ich je hatte.

© Max: Papageiengeschichten

6 Kommentare :

  1. Lieber Max,

    ich bin mal wieder begeistert was du für tolle Abenteuer erlebst. Und freue mich jedes Mal wieder etwas Neues von dir zu lesen.

    Mach weiter so und sag liebe Grüße an Mia und Mama.

    Saludos
    B.

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  2. Huhu,

    eine wirklich lustige Geschichte!
    So einen Lutscher hätte ich auch gern gehabt. xD

    Mal sehen was du noch so erlebst.

    LG

    P.L.

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  3. Hallo lieber Max,
    was für eine Freude, dich wieder lesen zu können.
    Es ist ja schon lange her, du musst in der Zwischenzeit zu genommen haben. Ich meine nur, wie kommt sonst jemand dazu, dich "Knödelarsch" zu nennen?
    Biba, ein guter Freund von dir.

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  4. Betreff: Knödelarsch

    Biba?

    Bist du der Biba vom Bundesverband der "Stadttauben for Pride and Beauty"? Na, dann wird mir alles klar ...

    Dein Max

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  5. Nee Max,

    ich bin zwar stolz und schön (sowieso)m, aber Biba nicht. Biba ist die Grünen-Geheimsprache und heißt: bis bald lieber Max.
    Ich muss unter anderem immer ein Auge auf einen Heini mit rotem Balken haben.
    Na, klingelt es jetzt bei dir Max?
    Grüß mir die holde Weiblichkeit an deiner Seite.

    Bis bald, ein Freund

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  6. Grunzer? Du bist Grunzer, mein Freund Grunzer?

    Warum hast du das nicht gleich gesagt? Warum immer solche Rätsel machen? Wie geht's dir denn? Hier hat sich viel getan. Ich bin auferstanden wie PHoenix aus dem Schlamm. Ich bin jetzt Blog-Journalist. Schön, dass du hergefunden hast. Für ältere Leute ist das ja nicht einfach.

    Grüß mir die andern (den Rotbalkenheini nicht!) und natürlich die Uschi.

    Dein erfreulicher Max

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