Freitag, 8. Oktober 2010

Geocaching

Früher sind die Leute spazieren gegangen wegen ordinärer Frischluft und Fußbewegung, heute kriecht man im Gebüsch herum und grabbelt nach Schatzdöschen. Da sind dann ein Bleistiftstummel drin und ein Heftchen, wo man sich eintragen darf als Beweis für die Entdeckung. Dann klappt man alles wieder zu und versteckt es am selben Platz, damit die Nachfolger genauso viel Mühe beim Suchen behalten.

Darüber ließe sich allerhand Verwunderung äußern, nicht wahr? Aber ich selbst habe so ’ne Verrückte im Haus, nämlich die Mia. Dauernd hockt sie vorm Laptop und sucht auf dem Lageplan neue Verstecke heraus. Wenn’s in der Nähe liegt, fliegt sie hin, liegt’s weiter entfernt, nimmt sie die Straßenbahn. Die Mama sieht es allerdings nicht gern, dass die Mia allein loszieht, weil sie meint, hastige Menschen täten womöglich auf die Mia drauftreten oder Hunde könnten sie wegtragen und als Vorrat im Sandkasten verbuddeln. Daraufhin hat sich die Mia voller Theatralik mit dem Flügel an die Brust geschlagen und Einwendung gemacht, dass sie viel zu grün sei, um mit ’nem Hundehaufen verwechselt zu werden, und für den zweiten Fall täte sie Karate beherrschen. Zur Demonstration ist sie auf die Mama zugetrampelt, hat ein paar Mal „hu!“ und „ha!“ gerufen, hat mit den Flügeln gewedelt und schließlich mit dem Schnabel ausgeholt und der Mama in die Hand gehackt.

Ui, da war vielleicht was los! Ich wusste gar nicht, dass die Mama die Tonleiter kreischen kann. Das ging immer hoch mit der Stimme und wieder runter. Die Mia hat zwar gleich „Ogottogott!“ gerufen und Bußmimik aufgesetzt mit Augendeckelgeklappere und Tränenimitat, das ihr sogar die Backen runterlief, aber die Mama wollte trotzdem stinkig bleiben. Es täte das letzte Mal gewesen sein, dass die Mia allein auf Schatzsuche gehen dürfe, hat sie geschrien. Damit sei jetzt Schluss, ein für allemal; die Mia müsse daheim bleiben –oder der Max käme mit, damit er auf sie aufpassen täte.

Nun, hatte ich schon gesagt, dass diese geologische Schatzkriecherei nicht mein Hobby ist? Warum sollte ich der Mia also Entgegenkommen spendieren? Andererseits: Man ist ja kein Unvogel, nicht wahr? Außerdem konnte ich die zwei Stangen Kaugummi, die Tüte Gummibärchen und die zweimalige Nachtischabtretung gut gebrauchen. Wir mussten einen Schal umbinden und der Mama versprechen, vorm Dunkelwerden wieder daheim zu sein. Dann ging’s los hinab in die Tiefe. Das Klofenster war unser Sprungbrett. Die Mia hatte ein Ziel im Stadtpark ausgesucht, dahin war’s nicht weit. Nur der Wind machte uns zwischendurch ein wenig Abtrudeln; fast wäre die Mia mit der Kralle am Efeugebamsel an irgendeinem Balkon hängen geblieben, doch am Ende kam der Rasen in Sicht und wir konnten ohne Hinderung das Landemanöver einleiten.

Kaum war ich zum Stehen gekommen, kam gleich ein Chappi-Wolf angerannt und schnorchelte mich feucht ab. Das machen sie immer, obwohl ich mir jedes Mal diese Intimität mit aller Energie verbitten tu. Diesmal war’s einer in Schwarz mit Flokati-Frisur. „Hau ab, du Sabberheini!“, habe ich gerufen und mir das Untenrum mit den Flügeln zugehalten. Er ist dann sofort abgezogen, und die Mia hat auf das Wäldchen am Rand gezeigt und gemeint, dort müssten wir hin, darauf täten die Koordinaten passen.

Wir mussten uns erst an pieksenden Büschen vorbeiquetschen; mein Schal hat jetzt ein paar Deko-Schlaufen mehr. Unter den Füßen war’s mal schlammweich, dann wieder wurzelhart.
„Schwierigkeitsgrad 1 fürs Gelände“, hat mir die Mia Information in den Nacken gebrüllt. „Mach mal hinne.“
Gleich darauf tat sich eine Art Lichtung auf. Jedenfalls stand ein dicker Baum in der Mitte, drum herum lagen ein paar Eicheln in Blätterbegleitung und jemand hatte Bonbonpapier und ’ne Cola-Dose hingeworfen. Sonst war nichts Besonderes zu sehen. Die Mia guckte sich um nach allen Seiten und machte dann „tjaaa …“. So sah jemand aus, dem die Ratlosigkeit gerade die Siegerpose vermurkst hatte.
„Was ist nun, wie geht’s weiter?“, tat ich Hilfestellung geben.
„Ja, gleich“, sagte die Mia. „Der Cache hier nennt sich „Hellwach, aber nicht vom Kaffee“.“
Watt? Komischer Titel. Ich wusste zwar, dass dieses Suchdinger alle einen Namen haben wegen Hinweis zum besser Finden, aber was sollte das bedeuten: hellwach ohne Kaffee?

Zum Nachdenken bin ich nicht mehr gekommen, denn es machte plötzlich „plopp“ und mein Denken gab mir Vorstellung von ’ner Rohfrikadelle, der man mit dem Schnitzelklopfer ’n Muster verpasst. Ein Blitz sauste durch meinen Körper und machte mir Senkrechtteilung: Auf der einen Seite standen die Federn nach links ab, auf der andern nach rechts. Im Augenwinkel konnte ich gerade noch sehen, wie neben mir was Großes zu Boden krachte.

„Anschlag! Anschlag!“, johlte die Mia und ruderte mit den Flügeln. „Jemand hat ’ne Eichel auf dich fallen lassen.“
Wie ich es schaffen tat, weiß ich zwar nicht mehr, aber es gelang mir, den Kopf in den Nacken zu legen und in den Baum zu gucken. Hunderte von tanzenden Glühwürmchen machten mir das Sehen flimmrig. Ein Piepsstimmchen kicherte „hihihi“, dann verschwanden zwei Puschelschwänze den Ast hinauf. Die Schwanzwedel hatten die Farbe von vertrocknetem Corned Beef. Wir haben daheim eine Kommode in dieser blöden Farbe.
„Hast du dir wehgetan?“, wollte die Mia jetzt wissen und drückte von hinten auf meiner Matschbirne herum.
Plötzlich waren wieder Stimmen zu hören, nur diesmal von der andern Seite und nicht aus einem Baum, sondern von Waagerecht aus gleicher Höhe.
„Sollen wir uns verstecken?“, tat die Mia flüstern. Dabei hatte sie mich schon längst in Richtung Baumstamm gezerrt.
Nebenan stand halbhohe Grünvegetation, dahinter ließ es sich bequem hocken und durchgucken. Gegenüber verlangte Geraschel Aufmerksamkeit. Jemand sagte:
„Es muss doch hier irgendwo sein.“
Dann kam was Rundes in Kackbraun zum Vorschein. Erst dachte ich, es wäre ’ne sprechende Bioabfalltonne, die sich auf den Bauch gelegt hatte und nun vorwärts robben tat. Aber es war was ganz anderes.
„Dumme Wildschweine“, kicherte die Mia.
Nun war auch der Kumpel zu sehen. Sie standen auf der Lichtung, nicht weit entfernt. Eines der Wildschweine trug ’nen lila Rucksack auf dem Rücken, das andere hatte ’nen Seppelhut auf und eine Karoserviette um den Hals geknotet. Sie guckten sich um, wir duckten uns.
„Wie war noch mal der Name, Martha?“, fragte der Rucksack.
„Hellwach, aber nicht vom Kaffee“, antwortete der Seppelhut.
Die Mia stieß mich an und hielt sich den Flügel vor den Schnabel. Sie konnte kaum ihrem Lachbedürfnis Einhalt befehlen:
„Das finden die nie!“, gackerte sie leise.

Unterdessen hatte das Transportwildschwein den Baum begutachtet, bis hinauf zu den Wipfeln; der Rüssel zeigte in die Luft, der Rucksack hing schlapp auf dem Schinken. Seine Seppel-Frau tat ihm Warnung geben. Er solle nicht so nah rangehen, meinte sie, sonst kämen womöglich Eicheln runtergesaust, man täte schließlich nicht wissen, welch missgünstigen Leute da oben säßen und nur auf eine Gelegenheit warteten. Nee, nee, natürlich nicht, hat der Rucksack geantwortet, er sei doch nicht dämlich, so was wisse doch der dümmste Idiot. Und überhaupt: Sei das nicht sogar der Hinweis aufs Versteck? Hellwach von irgendwas, das einem auf den Kopf falle?

Neben mir keuchte die Mia: „Oh Mann …“ Mir war ’ne Ameise ins Pogefieder gekrabbelt. Unverschämtheit! Ich musste sie erst suchen, jede Feder einzeln umklappen, bevor mein Schnabel sie greifen konnte. Die Loopings, die sie dann zeigte beim Schleuderflug waren allerdings sehenswert.
„Hör auf, hier so rumzuhampeln – du verrätst uns noch!“, keifte mich die Mia an.
Da vorn bei den Suchschweinen war Innehalten entstanden. Sie guckten in unsere Richtung. Wir machten Salzsäule.
„Hocken da nicht zwei grüne Vögel hintern Busch?“, war jetzt zu hören. „Der eine ziemlich dick?“
Die  Mia kicherte wieder.
„Ach nein“, antwortete der andere. „Das ist nur Abfall. Plastiktüten. Hat jemand dort hingeworfen – aber schau mal, Hubert … hier! Die Cola-Dose! Nicht Kaffee, aber Koffein. Davon wird man auch hellwach.“

Der Seppelhut tat jetzt die Dose aufheben. Kurzes Triumphgegrunze machte seinem Rüssel Entweichen. Die Dose wurde geschüttelt, Geklimper war zu hören. Der Deckel bekam eine genaue Inspektion:
„Der Verschluss ist breiter gemacht worden.“
Die Dose wurde auf den Kopf gedreht und erneut geschüttelt. Wieder war Geklimper zu hören. Die Mia sagte nichts mehr. Sie hockte nur steif da und glotzte entleert. Mich erinnerte es an damals, als ihr Fitnesstrainer-Chatfreund, dieser alberne Flamingo, ihr gesagt hatte, er stehe nicht auf Frauen mit Stummelbeinen. Damals hatte sie den gleichen Mordausdruck um die Glubschaugen gehabt wie jetzt. Ich tat mich bereithalten, um die Mia notfalls durch Schwanzziehen am Angriff zu hindern.

Inzwischen hatten die Wildschweine die Cola-Dose von allen Seiten befummelt. Aber außer dem kleinen Bleistift war nichts herausgefallen. Das Gipfelbüchlein steckte fest. Die Mia richtete sich auf.
„Meine Hufen sind zu groß“, meinte der Rucksack schließlich voller Resignation. „Ich komme nicht in die Öffnung rein.“
„Bravo!“, schrie die Mia, riss sich aber sofort die Flügel vor den Schnabel und duckte sich wieder.

Die Wildschweine schauten sich an, der Seppelhut schüttelte den Kopf. Den Bleistiftstummel schob er zurück in die Öffnung, legte die Dose wieder auf dem Boden ab. Wir konnten zwei trübsinnig davonschunkelnde Wildschweinärsche beobachten, bevor sich das Gebüsch wieder beruhigte und mit uns allein blieb. Ich wollte mich gerade recken, endlich meinen Knochen und Sehnen ein wenig Beanspruchung spendieren, da war die Mia schon vorgeschossen, exakt wie neulich, als es die hässlichen Pailletten-Handtaschen im Sonderangebot gab. Da hatte ich auch nur noch ihren wippenden Schwanz abzischen sehen. Jetzt war die Mia auf die Lichtung gerannt, hatte die Cola-Dose gegriffen. Wildes Schütteln brachte den Bleistift zum Abstürzen, dann pulte die Mia mit der Kralle in der Öffnung herum.
„Juhu!“, schrie sie. Sofort fing sie an mit dem Schreiben.

Diese Gipfelbüchlein sind mit das Wichtigste für Schatzsucher, denn darin kann man Beweis machen, dass man schlau genug war, so ein kniffliges Versteck zu finden. Zu Hause kann man am PC noch mal einen Kommentar dazu abgeben. Man braucht nur auf die Seite zu gehen, wo dieses Versteck beschrieben ist. Zufällig ist mir bekannt, was die Mia dort hinterlassen hat, nämlich:
„War total leicht, aber trotzdem danke.“
Ich habe beschlossen, den Preis für meinen Begleitservice etwas anzuheben: Neben Kaugummi, Gummibärchen und Nachtisch kann ich nun auch Butterkekse und Leckmuscheln gut gebrauchen. Verschwiegenheit geht extra.

© Max: Papageiengeschichten

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