Sonntag, 24. November 2019

Ei-ei-ei, das was unklug

Bevor sich jemand beschwert, dass ich schon wieder nicht rumkomme mit dem neusten Reisebericht, fordere ich den geneigten Leser auf, an einem kleinen Rätsel teilzunehmen. Das beruhigt die Nerven und trägt zur Bildung bei. Wo ist das?


Ich helfe mal nach.
  1. Es liegt nicht in Europa.
  2. Es ist nicht in Australien.
  3. Von dem Namen gibt es einen Schriftzug auf weißen Damen-Strandtaschen mit Goldkordeln.
Na, richtig geraten? Gut. Dann wisst ihr ja, wohin wir im September gereist sind. Die ganze Story hier zu erzählen, kann ich leider nicht machen, weil mir die Zeit fehlt. Ihr wisst ja, gerade vor Weihnachten ist viel zu tun. Mir fehlt noch Geld für die Geschenke, und die Dachtauben sind sehr im Rückstand mit der Miete. Wenn ich das nicht in den Griff kriegte, kann ich der Putze diesmal nur neue Topflappen schenken. Die wünscht sie sich zwar brennend, aber meine Ambitionen gehen dann doch über den Wert von 5 Euro hinaus. Also heißt es am Ball bleiben. Deswegen muss die Schreiberei erst mal warten.

Was ich aber machen kann, ist schon mal den Anfang zu erzählen, also das, wie es zu dieser Reise kam. Auslöser war ein Brief vom Luke. Ich hatte mich schon gewundert, warum der Halsabschneider mir überhaupt schrieb, und dann auch noch auf edlem Geschäftspapier. Der Inhalt war dann noch mysteriöser.


Häh? Was wollte die Knalltüte in Malibu? Und warum lud er uns ein? Da musste ich gleich mal beim Pit nachfragen. Da war doch was faul? Nee-nee, meinte der am Telefon, der Luke hätte tatsächlich den Job bei Baywatch bekommen – ganz überraschend für alle, weil keinem bekannt gewesen wäre, dass er sich dort beworben hatte. Nun fliege er zwei-, dreimal im Jahr an die Westküste: mal was anderes sehen, rauskommen aus dem Trott, neue Herausforderungen stemmen. Immer nur Stallratten und Kakerlaken um sich herum, das enge auf die Dauer den Horizont ein, da werde man betriebsblind. Der Pazifik sei ganz anders, nicht zu vergleichen mit der Ostsee, und die Badegäste, die seien auch viel gefährdeter wegen der Wellen und weil sich dort menschliche Unvernunft gleich viel verheerender auswirken könne. Kurzum, der Luke hätte den perfekten Ferienjob gefunden. Bezahlt werde er übrigens auch recht gut. Daher könne er uns getrost zu dem kleinen Trip einladen. Er, der Pit, würde sich jedenfalls schon freuen. Er müsse auch mal raus, auch mal Abstand gewinnen. Als Geschäftsführer dauernd Kondolenzschreiben an trauernde Stallratten- und Kakerlaken-Familien zu verschicken, sei ganz schön aufreibend.

Hm, ich traute dem Braten trotzdem nicht. Der Luke hatte doch noch nie was verschenkt?
„Papperlapapp!“, hat die Mia gemeint. „Das hat schon alles seine Richtigkeit.“
Dann ist sie ans Handy gestürmt und hat die Cora angerufen. Hysterisches Gekreische auf beiden Seiten. Von der Anschaffung eines neuen Glitzer-Bikinis war die Rede und davon, dass Malibu doch ganz in der Nähe von Beverly Hills liege, nicht wahr? Mönsch, dann sehe man vielleicht sogar den einen oder andern Hollywood-Star, ganz live und von ganz nah! Die Mia trampelte dabei vor Aufregung wie blöd mit ihren Stummelbeinchen auf der Ledercouch herum, obwohl das wegen der Kratzer streng verboten ist. Die Kratzer von ihren langen Krallen hat sie später mit schwarzer Schuhcreme zu reparieren versucht. Weil sich aber die Putze mit ihrer hellen Hose draufgesetzt hat, gab es mächtig Ärger. Die Mia hatte alle Hände voll zu tun, die Wogen wieder zu glätten. Ich weiß nicht, wie sie es schließlich geschafft hat (wahrscheinlich mit weinerlicher Reue), aber am Ende stand ihrer Teilnahme an der Reise nichts mehr im Wege.

Doch, halt! Nicht ganz. Ein Hindernis war noch zu überwinden: der Kauf einer neuen Strandtasche. Mit der alten vom Ägypten-Trip, äh, ich meine von unserer Spessart-Wanderung, könne man sich ja un-mööööglich in Malibu blicken lassen, obgleich breit und fett „Malibu“ draufstand. Endlich hätte es mal gepasst. Aber da war die Mia unerbittlich. Auch Coras Exemplar würden wir nicht mehr zu Gesicht bekommen, denn das war in Kairo geblieben, nachdem die Strandtasche als Krankentransport hatte dienen müssen. So was hält kein Stoff aus, wenn man ihn mit einer invaliden Amazone drin über den Asphalt schleift. 

Mir schwirrte schon der Schädel vor lauter blödem Urlaubsgedöns. Deswegen habe ich mich auf den Karlsson gefreut. Der würde die ganze Sache genauso rational sehen wie ich. Es geht halt nichts über ein anständiges Männergespräch. Ich habe ihm den Brief vorgelesen.
„Hm … ja … gut“, meinte er aber nur am Telefon.
Wie? Das war alles, was er dazu zu sagen hatte?
Nun ja, bei ihm herrsche noch dicke Luft, da könne er schlecht planen, hat er erklärt. Sein Papa wäre noch immer ziemlich angefressen (man erinnere sich: wegen der Lügerei und der Unterschlagung von einem Batzen Bildungskohle). Da müsse man leiser treten, sich wohl verhalten, nicht auffallen und – ganz wichtig – Bescheidenheit demonstrieren. Ein Urlaub, selbst wenn es sich nur um eine Woche handelt, käme da nicht so gut an.
„Aber der Luke zahlt doch alles“, habe ich gesagt.
Ja, schon, aber es brauche Zeit, um den Papa wieder gnädig zu stimmen. Das müsse man klug angehen: mit einlullen, lieb gucken, überschwänglicher Begrüßung (am besten jedes Mal, wenn er ins Zimmer tritt), den Sessel vorwärmen, auf Leberwursthäppchen verzichten, Freiwilligendienst verrichten wie Laub rechen oder die Mülltonne an die Straße schieben. Bis Weihnachten, wenn wir nach Australien fliegen wollen, muss es über die Bühne gegangen sein. Aber ob er den Papa auch schon im September so weit hätte, das müsse sich erst noch zeigen.

Ach, das war ja blöd. Ohne den Karlsson verreisen? Ich allein mit dem Pit gegen die beiden Weiber? Ich könnte mir echt was Schöneres vorstellen.
„Schick mir doch mal Lukes Brief“, hat der Karlsson eingelenkt. „Ich werde sehen, was sich machen lässt. Dann habe ich wenigstens was in der Hand und kann versuchen, meine Strategie daran auszurichten. Es wäre ja toll, wenn ich doch noch mit könnte.“

Na, das war ja mal ein Wort. Sofort habe ich den Brief kopiert. Den Umschlag und die Briefmarke habe ich der Putze aus der Schublade geklaut. Dann habe ich den Brief selbst zum Briefkasten gebracht und eingeworfen. Gleich, als ich wieder zu Hause war, bin ich wieder ans Telefon, den Karlsson anrufen, um ihn zu sagen, dass der Brief unterwegs sei. Doch statt einem Dankeschön wurde ich angepflaumt:
„Wie …? Du schickst mir Lukes Brief per Post?“
„Ja, wie denn sonst?“
„Ich dachte, per Mail.“
„Konnte ich ja nicht wissen.“
„Und was hast du draufgeschrieben als Adresse?“
„Na, Karlsson und deinen Nachnamen.“
„Karlsson Terrier?“
„Nö, Karlsson und den Nachnamen von deinem Papa.“
Da wurde es plötzlich noch lauter an meinem Ohr. Der Karlsson hat jetzt richtig geschrien. Ob ich verrückt sei? In dem Brief stünde doch, dass wir am Toten Meer gewesen sind. Was ich wohl meinte, ob sich das günstig auswirke auf die Belatscherung seines Papas, wenn er erführe, dass er auch diesbezüglich angelogen wurde?

Okay, da war was dran. So 'n Mist. Depp hat der Karlsson nicht zu mir gesagt, das weiß ich genau. Idiot war es auch nicht, irgendwas anderes, so was wie … jetzt habe ich's: Kretäng. Seit der Karlsson damals mit uns in Paris war, hat er manchmal französische Anwandlungen. Ich hör gar nicht hin. Hauptsache, er beschimpft mich nicht.

Aber was war jetzt mit dem Brief?
„Max, du musst sofort versuchen, den Brief zu stoppen. Er darf auf keinen Fall hier ankommen!“
Das war ja lustig, und wie, bitteschön?

Aber ich wäre nicht der Master of the Universe, wenn mir nichts eingefallen wäre. Sofort bin ich zurück zum Briefkasten geflogen. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Taten: Klappe auf, reingeguckt. Zu sehen war leider nichts. Auch als ich mit der Kralle reingelangt und ein bisschen in der Luft gerührt hatte, war ich keinen Schritt weiter. So wurde das nichts. Jetzt war Ganzkörpereinsatz gefragt. Ich habe mich durch die Klappe gequetscht. Auf der andern Seite bin ich in einen Stapel Papier geplumpst. Leider war es sehr dunkel dort drin, so dass ich meinen Brief nicht finden konnte, obwohl es einer der obersten sein musste. Zu blöd, mein Handy hatte ich zu Hause gelassen. Damit hätte ich jetzt schön leuchten können. Und bei jedem Schritt kam der Papierteppich ins Rutschen, und was gerade noch oben lag, lag jetzt an der Seite oder sonst wo. Unmöglich, hier eine Entscheidung zu treffen. Schließlich musste ich aufgeben. Ich bin am Stoffsack hochgeklettert und, als die Luft rein war, durch den Schlitz abgehauen.

Der Karlsson war natürlich nicht erfreut, als er hörte, dass ich nichts hatte ausrichten können.
„Kretäng!“, hat er noch mal gesagt.
Ich glaube, Französisch hilft ihm, sein Gleichgewicht zurückzugewinnen. Jedenfalls war er jetzt auf sich allein gestellt. Ich konnte im nicht mehr helfen.

Dummerweise war am nächsten Tag Samstag. Ausgerechnet. Samstags ist ja sein Papa daheim, und da wird es doppelt schwierig, unbemerkt den Briefträger abzufangen. Denn das war Karlssons letzte Chance: auf den Briefträger zu warten und ihm den Brief abzunehmen, bevor sein Papa ihn in die Hände kriegte. Ich habe natürlich alle Daumen gedrückt, dass es klappte.

Wie es ausging, habe ich am Sonntag erfahren. Der Karlssons rief an, diesmal ohne Französisch zu reden, trotzdem ohne rechten Elan in der Stimme. Irgendwas war schiefgelaufen. Nach Karlssons Bericht hatte es sich so zugetragen:

Den ganzen Vormittag war er wachsam gewesen, um den Briefträger nicht zu verpassen. Seit 9.00 Uhr in der Frühe hatte er an der Pforte gesessen. Sein Papa war unterdessen im Garten zugange gewesen, Stauden entfernen, Hecke schneiden oder so was. Gewundert hätte er sich, warum der Karlsson da so hartnäckig herumgehockt hätte, wo er doch sonst nie die Straße beobachten würde. Leider war der Postmann um 12.00 Uhr immer noch nicht da, aber jetzt hat seine Mama ihn gerufen, er solle mal reinkommen und helfen, das überzählige Hähnchenfleisch vom Mittagessen zu entsorgen. Natürlich hat der Karlsson da nicht nein sagen können (wie auch, wenn man gerade auf artigen Hund macht?), und ausgerechnet, als er in der Küche war, ist an der Pforte der Briefträger aufgetaucht und hat seinen Papa begrüßt. Der wiederum wollte sich gerade auf den Weg machen, um die Post persönlich entgegenzunehmen. Jetzt war guter Rat teuer. Der Karlsson hat nicht lange gefackelt. Er hat das Hähnchenfleisch ausgespuckt, den Rest aus den Bartharren geschüttelt, dass es nur so in alle Richtungen wegspritzte, er ist zur Haustür rausgeschossen, am Briefträger hochgesprungen, hat die Post geschnappt und ist damit zurück ins Haus gerannt.

Gerade hat er noch seinen Papa schreien hören:
„Karlsson! Ist es zu fassen? Sofort kommst du her!“
Deswegen hat er vorsichtshalber von innen schnell noch den Riegel vor die Haustür geschoben, damit der entzürnte Papa nicht hinterherkäme. Uff, das was geschafft. Aber dann ist dem Karlsson eingefallen, dass es ja auch noch eine Hintertür gibt, und die war nicht abgeschlossen. Also hat er der Polly zugerufen (sie lag gerade im Wohnzimmer und las in der „Cosmopolitan“), um Gottes willen, schnell, sie soll sofort die Post ins Badezimmer tragen und den Brief vom Max („Den mit der krakeligen Schrift! Nun mach schon!“) vernichten, zerreißen, ins Klo schmeißen, meinetwegen aufessen, nur dass er ja weg ist und nicht die Mama ihn womöglich vorher in die Finger kriegt.

Unterdessen ist der Karlsson zur Hintertür gerannt. Er hat den Papa draußen schon herankommen hören. Er tat noch immer laut schimpfen. Die Tür war tatsächlich nicht verschlossen. Wo war der Schlüssel? Himmel, die Zeit drängte. Kein Schlüssel zu sehen. Gleich wäre der Papa an der Klinke. Jetzt half nur noch eins: sich auf den Boden zu schmeißen und mit aller Kraft die Tür von innen zuzudrücken. Das hat der Karlssons gemacht – mit all seinen Sehnen, Knochen und Muskeln. Draußen stand der Papa und hat gegengedrückt, weil er rein wollte. Es muss ein elendes Gezerre und Geschiebe gewesen sein.

Der Held in Aktion

„Karlsson!“, hat der Papa immer wieder gebrüllt. „Was ist in dich gefahren? Lass mich rein!“
Aber der Karlsson hat standgehalten. So kennen wir ihn: konsequent, wenn es um die Sache geht. In solchen Momenten denkt er nicht an sich, in solchen Momenten wächst er über sich hinaus. Es zählt kein Schmerz, es zählt keine trübe Zukunft, es zählt nur das Hier und Jetzt, das, was ein Mann tun muss.

Irgendwann muss die Polly zurückgekommen sein. Sie hielt eine Zeitung und einen braunen Umschlag in der Schnauze. Die Mama war in der Küche und hatte nichts mitbekommen, Gott sei Dank.
„Hast du den Brief? Ist er weg?“, hat der Karlsson gekeucht.
„Ja“, hat die Polly gesagt und die nassgesabberte Zeitung und den durchweichten Umschlag auf den Läufer gespuckt.
Augenblicklich hat der Karlsson allen Widerstand aufgegeben. Die Mission war erfüllt. Fast hätte ihn der Papa mit der Tür aufrecht gegen die Wand gefegt, so unvermutet war keine Kraft mehr nötig, um die Tür aufzuschieben. Vielleicht hat das den Papa noch mehr verstimmt. Er verstand ja sowieso schon nicht, warum sich der Karlsson so merkwürdig benahm, und nun war auch noch seine Zeitung durchgesabbert und die Post zerfaserte vor seinen Augen in weiche Lappen. Okay, daran war eindeutig die Polly schuld, und der Karlsson musste ihr deswegen auch eine ordentliche Entschädigung zahlen (fünfmal sein Putenschnitzel an sie abtreten, glaube ich), aber erst mal sah die Lage für beide nicht rosig aus. Sie hatten sich ungebührlich benommen, hatten Sachbeschädigung begangen, waren renitent gewesen und hatten den Briefträger überfallen. Feinheiten zur Differenzierung der Straftaten waren durch die investigativen Fragen des vorsitzenden Richters nicht zu erlangen gewesen, weil beide Delinquenten zu den Taten schwiegen. So hatte der Papa seine Urteile bereits nach wenigen Minuten gefällt: Die Polly kriegte einen Monat Leseverbot für die „Cosmopolitan“ (also für die nächste Ausgabe), und der Karlsson bekam absolutes Reiseverbot bis zum Jahresende. 

Das war echt n' schöner Mist. Die Mama vom Karlsson hat dann noch einmal Nachtischverbot draufgelegt für die ungebührlich verteilten Hähnchenfleischteile auf dem gerade gewischten Küchenfußboden. Der zerknüllte Brief hat glücklicherweise keine Stauung im Klo verursacht. Er war weg, unbemerkt entsorgt, so wie es beabsichtigt war, aber abgesehen davon – was hatte wir nun davon? Der Karlsson saß jetzt zu Hause fest, ohne Aussicht auf Gnade, und wir wollten doch nach Malibu.
„Dann müsst ihr eben ohne mich fahren“, hat er am Telefon geseufzt.
Tja, was sollte ich dazu noch sagen? Mir fiel nichts ein, womit ich dem Karlsson zum Trost am Telefon hätte behilflich sein können. Die Mädels wollten unbedingt nach Malibu, und der Luke wäre bestimmt beleidigt (und womöglich nachtragend), wenn wir seine Einladung ausschlagen würden. Zum ersten Mal hatte ich absolut keinen Bock auf eine Reise, ich meine, so richtig keinen Bock.
„Nehmt doch die Polly mit“, hat der Karlsson  noch geraten, aber mir war nicht nach lachen zumute.

Fotos: Cora: © G .H.
          Pit und Luke: © Club der glücklichen Vierbeiner
          Karlsson und Polly: © Terrierhausen
          Malibu, Katze: Pixabay

© Max: Papageiengeschichten