Dienstag, 29. September 2020

Rio, mein Rio

 

HALLO, LIEBE LEUTE!
HEUTE MACH ICH MAL WAS NEUES, NÄMLICH EINE LIVE-REPORTAGE.

ICH STEHE HIER MIT DEN ANDERN IM SAMBODROM. DAS IST DAS STADION IN RIO DE JANEIRO, WO DIE SAMBASCHULEN IHREN JÄHRLICHEN KARNEVALS-WETTBEWERB AUSTRAGEN. ES IST SONNTAG, DER 23. FEBRUAR 2020, 23.00 UHR. DIE LEUTE AUF DEN RÄNGEN KLATSCHEN UND JUBELN UND SINGEN UND BEWEGEN SICH IM TAKT DER SAMBA-RHYTMEN. UNTER UNS TANZT GERADE EINE BUNTE FORMATION VORBEI, BEGLEITET VON EINER MANNSCHAFT AUS ALLERLEI TROMMLERN UND SÄNGERN. DIE MIKROFONANLAGE DRÖHNT ...

„Was schreist du denn so, Max?“
„WAS?“
„WARUM DU SO SCHREIST!“

Ja, warum schreie ich eigentlich? Da hat der Pit recht. Ich komme doch gar nicht gegen den Lärm an. Blöd, nun wollte ich euch Lesern mal was Exklusives bieten und dann funktioniert das nicht. Na, dann kann ich ja auch gleich weiter ausholen und berichten, wie wir überhaupt nach Rio kamen.

Das kam so: Ende Januar hat der Harald, der weiße Teichheini, die Mia verlassen. Mein Gott, die beiden sind lange zusammen gewesen, mindestens … ach, noch länger, Jahrzehnte müssen das gewesen sein. Verlobt hatten sie sich, aber Gott sei Dank nie geheiratet. Ich nehme an, die Aussicht auf ein wässriges Eheleben zwischen Rohrkolben und Sumpfdotterblumen hatte die Mia zurückschrecken lassen, und bei uns hätten die beiden auch nicht wohnen können, weil die Putze gestreikt hätte, dauernd die Pfützen hinter dem Harald aufzuwischen. Mich hat genervt, wenn er mit seinen Plattfüßen den Flur entlanggeflatscht kam. Das hörte sich an, als würde jemand mit einer leeren Wärmflasche aufs Parkett schlagen. Sonst war der Typ ganz okay, ein bisschen langweilig zwar, weil er nichts vom Autoquartett verstand, aber insgesamt ganz umgänglich. Jedenfalls hat er die Mia auf den Pott gesetzt, von einem Tag auf den andern. Kurz darauf erschien diese Anzeige im Wurfblättchen:

                                      

Hihihi, fehlte nur noch Gustav Gans als Gratulant. Ich könnte mich heute noch wegschmeißen.

Die Mia hat natürlich geschäumt vor Wut und Enttäuschung. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was hier los war, ein Geplärre den ganzen Tag. Stundenlang hat sie am Telefon gehangen und die Cora belämmert mit ihrem Gejaule. Der Harald sei ja sooooo fies und was er sich überhaupt erdreisten würde, sie wegen so einer dämlichen Wasserkuh zu verlassen. Dann eine Pirouette: Ha! Geschehe ihm recht, diesem Idioten; soll er doch glücklich werden mit seinem hässlichen Entlein, sie (die Mia) sei viel zu schade für diesen bekloppten Aqua-Proleten, sie könne sich heute noch orhrfeigen, wie sie überhaupt darauf reinfallen konnte. Nächstes Mal werde sie auf Qualität achten, darauf könnten wir Gift nehmen, aber so was von; ein Adler müsse es mindestens sein oder meinetwegen ein Fasan mit Oberarzt-Gehalt.

Ich gebe es nicht gern zu, aber ich muss es hier sagen: Die Cora tat mir leid. Sie musste inzwischen taub geworden sein von all dem Geschreie. Mit unendlicher Geduld hat sie die Mia ertragen. Dann kam überraschend der Luke zur Hilfe, Mister Baywatch persönlich, ausgerechnet der, dieser Angeber. Eines Abends rief er an. Irgendwie muss er was mitgekriegt haben, denn erst kondolierte er der Mia salbungsvoll, dann fragte er, ob er sie ein wenig aufmuntern dürfe mit einer kleinen Ablenkung.
„Ablenkung?“, hat die Mia geschnieft.
Ja, er würde ihr (und damit natürlich auch uns) gern eine Reise schenken, damit sie auf andere Gedanken käme –  nach Rio zum Karneval.
„Na, wäre das was für dich, Mialein?“
„Nun ja ...“, kam es mit zittriger Stimme, bevor die Tränen in einem dramatischen Aufschluchzen der Freiheit entgegenschwemmten. „Das wäre fein, Luu...uuke.“


Halt, Moment mal! Da hatte ich aber noch ein Wörtchen mitzureden. Wie kam der Kerl dazu, uns nach Rio zu schicken – und das auch noch zu bezahlen? Wo war der Haken? Nicht, dass wir anschließend zur Kasse gebeten würden mit Zinsen und Zinseszinsen oder so was. Da war doch was faul.

„Halt die Klappe!“, hat mich die Mia angeranzt.
Ihre Stimme klang jetzt erstaunlich fest. Von Tränen und Vibration keine Spur mehr. Ich solle nicht immer so misstrauisch sein, wurde ich belehrt, der Luke sei einfach nur nett, und dass er als Inhaber eines gutgehenden Unternehmens (nee, echt?) die Kohle dafür habe, müsse man dankbar annehmen, statt ihn mit Vorbehalten zu beleidigen. Hätte ich etwa Malibu schon vergessen? Und dann fielen noch die Worte Ignorant, Aufwiegler und Spielverderber. Damit war ich überstimmt.

Bei den andern fiel die Aussicht auf den Kurzurlaub ebenfalls auf freudige Zustimmung. Er sei dabei, hat der Karlsson gesagt.
„Ich auch“, kam vom Pit.
„Prima Idee“, hat die Cora gemeint.
Damals ging das Verreisen ja noch problemlos, das Zeug mit C nahm gerade erst Fahrt auf.

Aaaaber: Als hätte ich es geahnt, ein Haken war doch dabei. Der Luke mag zwar großkotzig sein und sein Geld für Flug, 5-Sterne-Hotel und ein nobles Taschengeld ausgeben, aber dumm ist er nicht. Sein Geschäftssinn schlug dann doch durch und versaute mir damit augenblicklich die Stimmung, an die ich mich gerade zu gewöhnen begann. Die Reise war nämlich nicht für uns fünf angelegt, die wir sonst immer zusammen verreisen, sondern – man lasse sich das auf der Zunge zergehen – als größere Gruppenreise, da ein Pauschalangebot vorliege, bei dem man ein paar Euro sparen könne, wenn man als Reisegruppe buche. Umgerechnet auf uns Tiere, die wir nicht so viel Platz einnehmen, hieß das, wir mussten 8 – 10 Leute zusammenkriegen.

Das war ja 'n schöner Mist. Augenblicklich ging das Gerangel los. Die vier Pferdedamen aus Pits Haushalt meldeten sich als Erste zu Wort. Marina und Abbatini, die beiden Oldies, meinten, jetzt seien sie auch mal dran nach all den Jahren klaglosem Herumgestehe auf der Weide, besonders weil  das Stutengenesungswerk ihnen die so lang ersehnte Kur im Allgäu nicht bewillige. Das allerdings fanden Lütti und Spooky, die beiden Youngsters, überhaupt kein Argument, denn da sie in ihrem jungen Alter noch nirgendwo hingekommen seien, hätten sie einen Anspruch auf den Platz, damit sie nicht länger in der Reithalle die unerfahrenen Landpomeranzen blieben und somit psychische Schäden entwickelten, während die andern Pferde-Teens in der Welt herumkämen.


Leider hatte ich nicht rechtzeitig gemerkt, dass die Mia ihr Smartphone noch an hatte, als sie mit Lütti telefonierte. Seitdem ist man im Stall nicht gut auf mich zu sprechen.
„Die passen doch mit ihren dicken Hintern gar nicht in die Sitze rein“, hatte ich gesagt.
Stimmt das etwa nicht? Oder wollten die Damen die achtzehn Stunden nach Brasilien im Flugrumpf stehen und sich dort an der Haltestange festhalten? Na also. Außerdem das ganze Stroh im Hotelzimmer und die Pferdeäppel auf dem Läufer, nee, das wäre doch sehr umständlich geworden.

Auch der kleine Jack musste zurückstecken. Da der Luke selbst nicht mitfuhr, um das Geschäft nicht allein zu lassen, hielt er ihn als Hilfe zurück (dass ich vorher angerufen und vor dem Gekotze ins Flugzeug gewarnt hatte, war sicher nicht ausschlaggebend für Lukes Entscheidung gewesen, nee, bestimmt nicht). Zwei Tage sei bei denen zu Hause alles auf dem Zahnfleisch gegangen, habe ich gehört, weil der Lütte so geheult hat. Dann sei er vom völlig entnervten Luke zum Assistenten befördert worden mit Urkunde und Hundekuchen zum Anstoßen und allem Drum und Dran. Jetzt trägt er eine Plakette am Halsband (schnell gestanzt aus dem Prägeautomaten), die ihn als very important Mitarbeiter ausweist. Stolz sei der Kleine jetzt wie Hulle und – puh! – alles ist (erst mal) wieder gut.

Als Ausgleich hatten wir aber jetzt die Amy an der Backe.
„Au ja!“, hatte sie gerufen, als sie von ihrem Ticket erfuhr. Und:
„Die Polly kommt doch auch mit, nicht?“

Ja, natürlich kam die Polly mit, wie hätte es anders sein sollen? In Rio de Janeiro gibt es bestimmt viel unberührte Natur zu entdecken, schließlich fließt der Amazonas direkt dran vorbei: ein Paradies für Naturliebhaber und alle, die mit dem Stadtleben nichts anfangen können.

„Polly, du weißt aber schon, dass wir zum Karneval gehen?“, hat die Mia vorsichtig gefragt.
Och ja, das sei okay, kam als Antwort, sie sei offen für Kurioses, notfalls könne sie sich ja absetzen und den Botanischen Garten besuchen. Den gebe es dort nämlich, das habe sie schon auf dem Stadtplan im Internet gesehen.

Mir machte es Sorgen, dass wir jetzt einen Überhang von einem Weib gegenüber uns drei Jungen hatten. Das war schlecht. Männliche Unterstützung wurde also dringend benötigt.

Okay, wenn ich ehrlich bin, an den Paule hatte ich jetzt nicht gedacht. War er denn gerade raus aus dem Knallbirnenheim oder warum hatte er Zeit?
„Wie? Was?“, hat er gemeckert. „Ich bin fit, gesund und reisefertig.“
„Deine Freundin bleibt aber zu Hause“, habe ich zur Bedingung gemacht.
Nicht, dass er die noch mitschleppte. Wie hieß sie noch? Virginia? Und dann ein Dackel. Wir waren ja schon drei Hunde. Ein bisschen aufs Gleichgewicht sollte schon geachtet werden.
„Keine Bange“, hat er mich beruhigt. „Mit Virginia ist es längst aus. Ich bin jetzt mit Evelyn zusammen. Sie lebt im Duisburger Zoo, sie kann eh nicht raus.“
Na, Gott sei Dank.

Wie viel waren wir jetzt? Acht? Um es gleich zu sagen: Dabei blieb es auch, denn Engelbert war zu  einem Klempner-Lehrgang (Therme und Heizung) angemeldet und wollte sich deswegen nicht frei nehmen. Schade, der Bursche hätte dem Geschlechterverhältnis gutgetan, andererseits war ich dankbar, denn auf jemanden aufzupassen, damit er nicht am Flugzeug herumschraubte und wir womöglich abstürzten, hätte viel Anstrengung in die Reise gebracht. Hinsichtlich dem Pit und seiner Popelei konnten wir ja inzwischen recht entspannt sein. Bisher hatte er sich auf allen jüngeren Reisen standhaft gezeigt und nichts Wesentliches zum Einstürzen gebracht. Das muss einmal lobend erwähnt werden.

Damit hatten wir's also, die Mannschaft stand. Wir flogen von Hamburg ab. Von dort ging es nach Paris und weiter nach Rio de Janeiro. Die mittlere Sitzreihe war unsere.

„Kein Fensterplatz?“, hat die Mia gemeckert.
Ich saß neben dem Karlsson und neben ihm hockte der Paule. Er trug seine goldene Schärpe „2. Platz“ vom Karaoke-Wettbewerb, die wir schon von unserem Besuch im Sommer in Duisburg kannten.
„Sehr schick, Caruso“, hat der Karlsson mit der Zunge geschnalzt „Oder hält das Ding irgendwas zusammen?“
„Was soll es denn zusammenhalten?“
Der Paule guckte verwundert.
„Na, ich dachte, vielleicht ist es ein orthopädisches Band für deinen Bauch oder die Rippen, wo man ihm das nicht gleich ansehen soll, deshalb ist es gemacht wie eine Siegerschärpe … nein? Oder nicht?“
Der Paule glotzte jetzt, als hätte der Karlsson ihm zum Knutschen aufgefordert. Oh-oh, damit nicht schon Ärger vor dem Start Einzug hielt, habe ich schnell zur Ablenkung das Team zum Pokern zusammengetrommelt.
„Pit, Karlsson, Paule … noch jemand?

Keine von den Damen meldete sich. Alles scharte sich um die Amy, die einen dicken Beutel unter den Sitz zu quetschen versuchte. Was um Himmels Willen dort drin sei, wollte die Polly wissen.

„Mein Karnevalskostüm“, lautete die Antwort. „Hier, schaut mal. Ich gehe als Kleopatra.“
Dann wurde ein weißes Bettlaken mit Zackenmuster am Rand hochgehalten und die Amy setzte sich einen Hut auf mit hinten und seitlich fallendem passenden Stoff, so wie es die alten Ägypter trugen. Alles starrte wortlos auf dies erhabene Schauspiel. Als Erste fand die Cora die Sprache wieder:
„Amy, meine Liebe, in Rio verkleiden sich nur die andern und die Zuschauer gucken zu.“
„Ach ja? Na, dann schmeiß ich den Beutel bei der Ankunft in den Mülleimer.“
Und das hat die Amy dann auch getan.

Der Flug dauerte fast achtzehn Stunden. Wir Jungs haben Karten gespielt oder „Hölzchen ziehen“  mit den Salzstangen, die der Pit dabei hatte in seiner Provianttüte. Am anderen Ende saßen die Mädels. Sie haben ununterbrochen geschnattert. Das heißt, die Mia hat vor allem geredet (über fiese Männer, unglückliche Beziehungen, das Single-Dasein und Glitzer-Bikinis) und die andern haben in schicklichen Abständen „Hm-hm“ gemacht. Zwischendurch ist die Amy eingenickt und die Polly hat in ihrem Reiseführer gelesen. Als es Nacht wurde, war die Cora, glaube ich, auch ganz froh, dass sie mal nicht zuhören musste, sondern ganz offiziell schlafen durfte. Ruhe kehrte ein. Wir Männer haben dann noch ein bisschen wettpupsen gespielt wegen der tollen akustischen Kulisse, sind aber gleich von den Weibern zurückgepfiffen worden. Egal, ich hätte eh nicht gewonnen.

Das Flugzeug landete morgens kurz vor 6.00 Uhr. Da war es noch dunkel draußen. Ihr wisst doch, nahe am Äquator geht die Sonne immer ganz plötzlich unter und genauso plötzlich wieder auf. In Rio de Janeiro ist das abends um sechs und morgens um sechs. Ein feucht-heißer Luftschwall empfing uns auf der Gangway. Puh, stickig. Fast wie im Bad, wenn die Dusche zu heiß aufgedreht war. Außerdem hatten wir jetzt Sommer.
„Mein Fell klebt“, hat die Amy gejammert.
Dabei waren wir noch gar vom Flugfeld runter. Man merkte eben schnell, dass das Landei noch nicht weit herumgekommen war.

In der Eingangshalle verriet eine Klimaanzeige: 80° Luftfeuchtigkeit.
Die Polly kramte einen kleinen batteriebetriebenen Propeller aus dem Rucksack, klemmte ihn vorne ans Brusthaar und ließ sich bepusten:
„Aaaaaah!“
„Gute Idee,“ hat die Mia gesagt.
Hörte ich Neid heraus?

Wir fuhren mit dem Taxi zum Hotel: Copacabana mit Blick aufs Meer. Wenn schon, denn schon. Da hatte der Luke sich nicht lumpen lassen. Das Zimmer war groß mit genug Platz für uns alle auf den Betten, und die Aussicht war spektakulär.


Copacabana
 
 
„Toll“, hat sogar der Paule gemeint.

Er stand mit gespreizten Flügeln auf dem Balkongeländer. Ein leichter Wind wehte vom Wasser her und ließ seine Wedel flattern. Seine Schärpe glitzerte gülden im Sonnenlicht. Wie man daran erkennt, war es inzwischen vollständig hell geworden.
„Macht der Brokatheini jetzt einen Abflug?“, hat mir der Karlsson zugeraunt.
Er war sauer, weil der Paule ihn beim Pokern abgezockt hatte, und die Schärpe lag ihm seit dem ersten Mal im Sommer schwer im Magen. Der Karlsson findet modische Männer nämlich affig. Als richtiger Kerl geht man nackt, lautet seine Devise.* Außerdem hatte der Paule „Häh?“ zu ihm gesagt, als er ihn über die Notwendigkeit radikaler Tierbefreiungen aufklären wollte. Das war nicht gut angekommen. Jetzt lag eine gewisse Spannung zwischen den beiden.

Den Pit kümmerte das wenig. Er inspizierte den Hotel-Kühlschrank.
„Was ist denn das – Gu-a-ra-na?“
Er hielt eine Getränkedose hoch.
„Das heißt Guaraná, mit dem Akzent auf dem letzten Buchstaben“, hat die Polly gemeint. „Das ist ein indianisches Wort, und das Getränk enthält einen Wachmacher, so was wie Cola, nur natürlich. Sollte man nicht spät abends trinken, sonst kann man nicht einschlafen.“
„Aha“, hat der Pit gesagt und die Dose wieder reingestellt.
Was die Polly nicht alles wusste. Gut vorbereitet wie eh und je, das muss man ihr lassen.

So, aber wie ging's weiter? Gab es irgendein Programm, das zu absolvieren wäre? Wir konnten hier doch nicht die ganze Zeit herumstehen, während draußen die Stadt auf uns wartetet.
„Ja“, hat sich die Mia gemeldet, „so ein Programm gibt es. Erst mal machen wir uns frisch, dann frühstücken wir, und dann fährt uns der Leihwagen zu einigen touristischen Höhepunkten. Am Abend sind wir im Sambodrom. Dort haben wir eine Loge.“

Es ist immer gut, wenn man was zu tun hat. Während die Mädels (außer der Polly) duschten und sich frisch einparfümierten („Ich bin noch sauber“, hat die Polly gesagt), ging die Bestellung des Frühstücks auf Pits und mein Konto. Kurz darauf klopfte es und ein Page rollte den Wagen herein. Es gab Melone, Papaya, Maracajú und Orangen für uns Vögel und Steaks und allerlei anderes gebratenes Fleisch für die Hunde und den Kater. Die beigelegten Brötchen hat der Pit mit Butter und Marmelade bestrichen und in seine Provianttüte gestapelt. Alles langte zu, nur der Karlsson glotze bedröppelt auf seinen leeren Teller.
„Was ist?“
„Ich kann das nicht essen.“
„Warum nicht?“
„Ich bin jetzt Veganer.“
Alle Köpfe flogen herum. Keiner kaute mehr, niemand rührte sich, lautloses Staunen erfüllte den Raum. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Der Karlsson lebte jetzt vegan? Ausgerechnet der, wo er damals in Ägypten fast umgefallen wäre, als er seine geliebte Wurst nicht kriegte und stattdessen Couscous essen sollte? Das musste er uns jetzt genauer erklären.
„Ach, war doch nur Spaß“, hat er gelacht und beherzt ein Hähnchenschnitzel vom Tablett gefischt.
„Du kannst einen vielleicht erschrecken“, hat die Cora geseufzt, und die Mia hat vorwurfsvoll den Kopf geschüttelt.

Maracujá - fremd für uns

 

Der Paule war entzückt über die Größe des dargebotenen Obstes. Papaya – kannten wir ja nur als grüne Handgranaten aus dem Supermarkt. Hier lagen die beiden Hälften so groß wie zwei ovale Pflanzwannen für den Garten auf dem Servierteller. Daraus ließen sich dicke Scheiben orangefarbenes Fruchtfleisch heraussäbeln, das sehr saftig schmeckte (und einem aus den Krallen zu flutschen drohte, wenn man nicht aufpasste). Auch die Maracujá kannten wir bisher anders, nämlich nur als Saft aus der Flasche. Es dauerte ein wenig, bis wir den Zugang zum Inneren entdeckt hatten, aber dann mundete es sehr lecker. Ich mag es säuerlich. Und dass wir Orangen vorgesetzt kriegten, war kein Wunder, denn Brasilien ist, soviel ich weiß, der weltgrößte Produzent von Orangenkonzentrat. Daraus macht man bei uns wieder Organgensaft. In der Landesmitte, wo keine Touristen hinkommen, soll es riesige Plantagen geben, an denen man tagelang entlangfahren kann, ohne eine Menschenseele zu treffen. Jawohl! Auch ich hatte nämlich meine Hausaufgaben gemacht und vorher im Reiseführer geblättert.

„Weisst du denn auch, was es mit diesem Sambodrom auf sich hat, Mister Lexikon?“, hat die Amy gefragt.
Ihretwegen hockten wir noch immer am Tisch, obwohl wir längst mit dem Frühstück fertig waren und nur auf die Abfahrt warteten, aber ihr Fell war noch nicht trocken und die Dame wollte so nicht auf die Straße gehen.
„Selbstverständlich weiß ich das, meine Liebe.“
Ich lass mir doch nicht nachsagen, ich sei ungebildet.
„Das Sambodrom, auch Sapucaí genannt, weil es in gleichnamiger Straße steht, ist ein längliches Stadion, 1984 von dem berühmten Architekten Oscar Niemeyer erbaut. Es fasst 70 000 Zuschauer und 3000 – 4000 Akteure, die unten auf der „Straße“ entlangflanieren. Das Stadion ist so angelegt, dass links und rechts die Tribünen stufenweise in die Höhe streben und unten in der Arena genug Platz bleibt, damit die einzelnen Sambaschulen auf voller Länge vorbeiziehen und zeigen können, was sie zu bieten haben. So feiert man in Rio Karneval, zumindest den offiziellen Part. Das ist das, was man dann bei uns in den Nachrichten sieht. Heute, am Sonntag, gibt es den ersten Durchgang mit den ersten sechs Sambaschulen, die um den Titel streiten, und morgen Abend kommen die restlichen sechs dran. Der Luke hat uns für beide Abende eine Loge bestellt.“

Hier kann man gut sehen, wie das Sambodrom angeordnet ist

 

„Das kann ja heiter werden“, hat die Polly geseufzt.
Da musste ich ihr ausnahmsweise recht geben, das war schon ein strammes Programm, aber – psst! – nicht, dass die andern Mädels das mitkriegten und zu meckern anfingen. Sie freuten sich doch so auf den Trubel. 
 
Nun aber hieß es erst mal, unsern andern touristischen Pflichten nachzukommen. Wir stiegen in eine Limousine. Die Mia monierte das Fehlen des Stretchanteils, da es sich um ein normal langes Auto handelte, aber wenigstens war es klimatisiert. Der Wagen schlängelte sich durch die engen Straßen. Copacabana mag als Strandkulisse atemberaubend sein, als Stadtteil ist es voll und eng und zugebaut wie alle andern dicht besiedelten Stadtteile in den Metropolen dieser Welt. Wahrlich, Glanz und Gloria sehen anders aus.
„Ist eben nicht Beverly Hills“, hat die Cora zu bedenken gegeben.
„Kann ja auch gar nicht“, hat sich die Polly gemeldet. „In Rio ist die Landschaft ganz anders. Hier stehen überall Berge im Weg. Da muss man nach oben bauen.“
 
Apropos oben. Hochhäuser sahen wir mehr als genug, allerdings nicht ganz so hohe wie in New York. Auch unser Hotel war ein Hochhaus, nur dass wir im zweiten Stock wohnten. Der Karlsson, dieser Höhenschisser, guckte schon ganz säuerlich. Das steigerte sich noch, als er erfuhr, wohin es ging: zum Zuckerhut – mit der Gondel hinauf auf den Berg.
„Wieso, was ist denn mit dem Karlsson?“, hat der Paule jetzt genauer wissen wollen.
„Nichts ist!“, hat der Karlsson gezischt, und die Amy, das Plappermaul, hat leise hinzugefügt:
„Er hat Höhenangst.“
Mir war so, als ginge ein leichtes Grinsen über Paules Schnabel, aber das kann ich mir auch eingebildet haben. Als die Cora dann noch fragte, ob der Karlsson eine Tablette gegen Durchfall haben wolle, sie habe extra eine eingesteckt, ging ein Schrei durchs Auto, dass ich dachte, der Fahrer würde gleich vor Schreck auf die Bremse treten.
„Lasst mich in Ruhe! Alle!“, hat der Karlsson gebellt und sich demonstrativ zum Rückfenster gedreht.
Oh, der Patient hatte Nerven. Na, da wollten wir mal nicht länger stören. Der Pit verteilte schon mal ein paar Marmeladenbrötchen. 

Hui, steil: der Weg auf den Zuckerhut


Unten am Zuckerhut haben wir uns in die Schlange gestellt. Die Mia als Bevollmächtigte vom Luke und Hüterin des Budgets hat die Karten gekauft. Der Karlsson stierte grimmig vor sich hin. Als die Gondel vorfuhr und es zum Einsteigen ging, dachte ich, er würde einfach sitzen bleiben und uns allein losschippern lassen. Aber nichts da, er stieg ebenfalls ein, setzte sich in die Mitte auf den Boden und starrte weiter vor sich hin. Die herrliche Landschaft, die sich nun vor uns an den tiefen Fenstern zu entfalten begann, blieb ihm deshalb verborgen, obwohl das schwierig war, denn die Gondel war rundherum bis fast auf den Boden verglast.

Die Amy und die Polly hatten die Vorderpfoten auf den Fensterrand gestellt. Wir Vögel saßen mit dem Pit auf dem Geländer. Zugegeben, wenn man es mit dem Schwindel hat, konnte einem der Blick in die Tiefe schon zu schaffen machen. Und es ging immer steiler hinauf. Unter uns war grün zu sehen und Wasser und Fels und Stadt.
„Hey, wisst ihr, an was ich denken muss?“, hat die Amy gerufen.
Na, an was?
„An den James Bond, wo er da so an der Gondel hier in Rio herumklettert und der Fiesling mit den Metallzähnen das Stahltau durchbeißt.“
„Ja, genau, das war Moonraker“, hat der Paule bestätigt.
„Sind die dann nicht unterwegs steckengeblieben und eine Gondel ist unten ins Gebäude gerast?“
Die Cora war sich nicht ganz sicher, ob sie den Film noch richtig in Erinnerung hatte.
Vor lauter Diskussion – weil jeder zum Besten geben wollte, wie es tatsächlich war –  haben wir leider versäumt, uns nach dem Karlsson umzuschauen. Jedenfalls lag er plötzlich auf dem Rücken und hielt alle viere von sich gestreckt, als es oben ans Aussteigen ging. Die Sache mit dem Tau und der ins Tal rasenden Gondel muss ihm zugesetzt haben. Er war ohnmächtig geworden. Die Polly hat ihn am Halsband  gepackt  und über die Türschwelle auf den Bahnsteig gezerrt. Wir andern haben gedrückt und geschoben. Nur jetzt rasch handeln, damit die Tür nicht zuging und die Gondel mit dem invaliden Karlsson nicht wieder wegfuhr.

Puh, das hatten wir gerade noch geschafft. Der Karlsson lag jetzt ohnmächtig auf dem Zuckerhut, touristisch gesehen feinste Gala, aber vom Betreffenden ohne Beifall quittiert.
„Wir müssen ihn hochlegen“, hat die Mia angewiesen.
Daraufhin hat der Pit seine noch halbvolle Provianttüte zur Verfügung gestellt für das notwendige Gefälle.
„Mensch! Nicht doch untern Hintern, Pit! Untern Kopf!“
Mann-Mann-Mann, einen Erste-Hilfe-Kurs hatte der Kerl offenbar noch nicht besucht.
Als wir gerade den Beutel unter den Lockenschädel zurren wollten, machte der Karlsson die Augen auf.
„Wo bin ich?“, hat er geflüstert.
„Schlaf nur weiter – auf dem Zuckerhut.“

Was ist? Hätte ich was anderes sagen sollen, wenn's doch stimmte? Sein Kopf sackte zurück, die Augen machten eine Spirale, die Zunge hing ihm seitlich aus der Schnauze. Glücklicherweise kam der Paule mit einer Dose Guaraná angelaufen, die er gerade am Kiosk gekauft hatte. Klasse Idee, vielleicht würde ihm der natürliche Muntermacher, von dem die Polly berichtet hatte, auf die Beine helfen. Und tatsächlich, Farbe zog wieder in seine Öhrchen und bald konnte der Karlsson auch wieder aufstehen. Wir haben ihn trotzdem angewiesen, im Ankunftsgebäude zu bleiben, ein bisschen fernab zu warten und sich zu erholen. Drei von uns, der Pit, die Amy und ich, sind reihum bei ihm geblieben, während die andern sich die Aussicht angeschaut haben. Das durfte man nämlich nicht verpassen: ein einmaliger Ausblick auf die Stadt. Nicht umsonst drängten sich die Touristen am Geländer: wunderbar, herrlich, einfach phantastisch. Die Brasilianer behaupten von ihrem Land, es sei „terra de nosso Senhor“, also Gottes Heimat. Ich finde, da ist was dran.

Blick vom Zuckerhut

Aber eine Aufgabe wartete noch auf uns: Wir mussten unsern Kranken heil zurück ins Tal bringen. Ob er nicht einfach in der Gondel die Augen schließen könne, hat die Mia dem Karlsson vorgeschlagen. Trotzdem wollten wir auf Nummer sicher gehen. Mithilfe des Schweizer Taschenmessers, das der Paule unter seiner Schärpe trug, haben wir Schlitze in Pits Provianttüte geschnitten (die Marmeladenbrötchen waren eh aufgegessen). So passte die Tüte genau auf Karlssons Kopf, und zwar so tief, dass seine Augen verdeckt wurden, frei nach dem Motto: Wer nichts sieht, muss auch nicht umkippen. Ich muss schon sagen, die Tragegriffe links und rechts machten sich gut an seinen Ohren und insgesamt hatte die Tüte große Ähnlichkeit mit einer Kochmütze, sogar die weiße Farbe stimmte. Hihihi. Die Polly hat den Karlsson in die Gondel geführt.
„Wehe, es macht jetzt einer ein Foto von mir!“, hat er gebellt.
Die Cora ließ augenblicklich die Kamera sinken.

Immerhin sind wir auf diese Weise gut unten angekommen. Wir hatten uns unterwegs aus Rücksicht nicht mehr über gerissene Taue und zerschellte Gondeln unterhalten. Der Karlsson war sichtlich froh, wieder Meereshöhe erreicht zu haben. Er atmete tief durch. Kurz darauf wurde sein Blick leider wieder glasig, nämlich als die Mia das Ziel der nächsten Etappe verkündete: die Christusstatue – und die steht auch auf einem Berg. 

Der Corcovado mit der Christusstatue

Als Tourist in Rio hat man zwei Möglichkeiten: Entweder stellt man sich auf den Zuckerhut und schaut auf den Christus, oder man besteigt den Corcovado, auf dem die Statue steht, und beguckt sich von dort aus den Zuckerhut. Wir würden beides machen, so hatte es die Mia entschieden.
„Entspann dich, Karlsson“, hat die Polly gesagt. „Auf den Corcovado kommt man mit dem Auto. Nur das letzte Stück muss man zu Fuß gehen – über eine Steintreppe oder einen Lift. Das kriegst du hin, nicht?“

Diese Info hat den Karlsson sichtlich entspannt. Seine Locken kringelten sich wieder fluffig. Wir atmeten auf, denn es ist für niemanden schön, wenn Leid und Siechtum die Gruppe befällt. Den Rest des Vormittags hat sich der Karlsson vorbildlich gehalten. Unsere Limousine brachte uns tatsächlich den Berg hinauf. Als wir auf der Plattform standen und uns noch einmal die Stadt von oben anschauten, war diesmal sogar der Karlsson voll des Lobes: Nein, so was Schönes! Das blaue Wasser! Die grünen Hügel! Der helle Strand! Grandios! Ja, tatsächlich, Rio von oben kann man sich immer wieder anschauen. Außerdem wehte dort ein erfrischendes Lüftchen, nicht zu vergleichen mit der feuchten Hitze unten in den Straßen. Den Brustventilator brauchte die Polly hier oben nicht anzuschalten.    

Seht ihr? Vom Corcovado kann man zum Zuckerhut schauen und umgekehrt


Einen ordentlichen Happen zum Mittagessen hatte der Karlsson sich redlich verdient – und wir uns natürlich auch. Weil er sich so tapfer gehalten hatte und nicht wieder in Ohnmacht gefallen war, durfte er das Lokal aussuchen. Seine Wahl fiel auf einen Burger-Tempel. Unser Fahrer wusste eine gute Adresse. Dort haben wir Hot Dogs gegessen und Burger und Nachtisch. Wie überall im Süden klebte einem das Zeug von dem vielen Zucker am Gaumen fest. Ich glaube, der Pudding bestand überhaupt nur aus Zucker. Der Paule hatte von Anfang an Vorbehalte geäußert:
„Nicht, dass ich davon meine Topfigur einbüße.“
„Wozu brauchst du die denn?“, habe ich gefragt.
„Na, für die Frauenwelt“, hat er gegrinst.
Oh, Mann, kein Wunder, dass ihm dauernd die Weiber davonliefen. Oder war er es selbst, der sie ständig austauschte? Hinter seinem Rücken beugte sich der Karlsson zu mir und flüsterte:
„Ekelhaft! Ich bleib allein.“
Recht hatte er, Weiber braucht kein Mensch. Gern hätte ich noch Pits Meinung dazu eingeholt, denn er mit seiner Edeltraut (mit t) hatte ja auch Leidvolles erlebt, doch der Pit saß zu weit weg und hatte wahrscheinlich sowieso nicht mitgekriegt, um was es ging, weil er sein Gesicht der Polly hinhielt, die ihm mit der Serviette Puddingklümpchen aus den Barthaaren klaubte. In Zukunft sollten wir besser wieder Obst bestellen.

Die nächste Etappe führte uns nach Lapa. Das ist ein Stadtteil von Rio, im Zentrum gelegen. Hier gibt es noch alte Gebäude. Doch berühmt ist Lapa vor allem für seine historische Straßenbahn, die sogar über eine Art Viadukt fährt.

Schöne Aussicht: Die Tram in Lapa

 

Wir standen unten und hielten die Köpfe im Nacken. Dort in schwindelnder Höhe über den schmalen Grat zu fahren, wäre bestimmt total aufregend, besonders wenn man auf dem Trittbrett mitfuhr.
„Was meinst du, Karlsson?“
„Hmpf“
Hieß das jetzt ja oder nein?

Zu schade, dass die Mia zum Weitergehen drängte. Keine Zeit! Keine Zeit! Die Limousine hatten wir zurückgelassen, nun waren wir zu Fuß unterwegs zur Kathedrale Metropolitana. Unterwegs mussten wir an jedem Zeitungskiosk halten, weil der Paule Ansichtskarten kaufen wollte. Endlos kramte er in den Ständern herum.
„Für meine Lieben daheim“, hat er gesagt.
Der Pit war fassungslos.
„Schreibt der echt euren Futtergebern zu Hause Urlaubsgrüße?“, hörte ich ihn leise die Cora fragen.
„Quatsch!“, hat sie geantwortet. „Er meint seine Tussen, damit sie ihn nicht vergessen.“

Die Mia hat am Kiosk nach einem Ventilator gefragt, so einem, wie die Polly hat, aber so was gab es dort nicht. Sie schwitzte ganz schön. Hinten standen der Mia die Kopffedern feucht ab. Wie gut, dass uns in der Kathedrale eine angenehme Kühle empfing. Und nicht nur das: Das ganze Gebäude beeindruckte vor überwältigender Größe und Architektur. Mit dem Grundriss (rund!) und den sich nach oben hin verjüngenden Seiten erinnert der Bau von außen an eine Maya-Pyramide (75 Meter hoch). Innen ist die Kirche natürlich ebenfalls rund mit Platz für 20 000 Besucher, wenn man die Stehplätze mitzählt. In der Mitte steht der Altar, rundherum streben breite Streifen aus Buntglasfenstern zur Kuppel. Geweiht ist die Kirche dem heiligen Sebastian, dem Schutzpatron der Stadt. Sie ist Sitz des Erzbischofs von Rio und hatte schon mal hohen Besuch, nämlich von Papst Franziskus, als er 2013 zum Weltjugendtag hier war. Gebaut wurde die Kathedrale 1964 bis 1979.

Die Kathedrale

„Wow! Das ist … großartig“, hat die Amy gestottert.
„Ja“, hat die Mia bestätigt, „Da kommt man sich ganz mickrig vor.“
Hihihi. In der Tat, vor allem wenn man mickrig ist. Sogar der Karlsson musste grinsen, als ich ihn anstieß.
Die Cora machte schöne Fotos. Im Fotokurs im Gemeindehaus hatte sie gelernt, wie man lange belichtet, damit man nicht wie hier in der halbdunklen Kirche mit dem Blitzlicht herumfuhrwerken musste. Die bunten Glasfenster kamen gut zur Wirkung.

Als es Zeit wurde zum Aufbrechen, fehlte jemand – der Pit. Du lieber Himmel! Wo war er hin? Wir schwärmten aus, jeder in eine andere Richtung. Laut seinen Namen rufen durfte ich leider nicht, obwohl es dann bestimmt schneller gegangen wäre.
„Untersteh dich!“, hat die Mia mich angefunkelt.
Sobald sie das Geld verwaltet und damit das Programm, ist sie (fast) genauso autoritär wie damals die Polly in Australien war. Es wurde Zeit, dass wir Männer wieder das Heft in die Hand bekamen. Frauen als Reiseführer sind die Pest.

Die Kathedrale von innen

Gefunden hat ihn schließlich der Paule. Der Pit hockte unter einer Kirchenbank und mampfte ein Frittiergebäck, das er wer weiß woher hatte.
„Warum versteckst du dich?“, hat die Cora wissen wollen.
Weil er aus Respekt vor dem Ort die Einsamkeit gesucht habe, lautete die Begründung. Aber warten, bis wir draußen gewesen wären, wäre nicht gegangen, was? Es wurde immer schlimmer mit seinem Appetit. Er sollte sich mal untersuchen lassen. Trotzdem war ich heilfroh, dass es nur das war, und dass er nicht doch heimlich irgendwo in einer Ecke zu popeln angefangen hatte. Man weiß ja nie, was da so an Degeneration durchbricht.

Nun mussten wir uns beeilen. Mit der Limousine, die an der Ecke auf uns gewartet hatte, fuhren wir zum Maracanã-Stadion. Die Polly war etwas enttäuscht, dass es nicht zum Botanischen Garten ging.
„Morgen“, hat die Mia versprochen.
Zwar ist keiner von uns Fußball-Fan, aber dieses Station muss man gesehen haben. Den Namen zumindest kennt doch jeder, oder? Als 1948 die Bauarbeiten begannen, weil man ein großes Stadion für die Fußballweltmeisterschaft 1950 in Brasilien brauchte, sollte die Arena 200 000 Zuschauer fassen. Das hat man auch geschafft. Damals war es das größte Fußballstadion der Welt. Inzwischen ist es aber auf knapp 80 000 Zuschauerplätze geschrumpft, weil man das Maracanã mit mehr Platz für die Presse versehen hat im Zuge der WM 2014, der Olympischen Sommerspiele 2016 und anderer Gelegenheiten. Imposant ist es trotzdem geblieben. Wir haben uns in eine Sitzreihe in die Kurve gesetzt. Ansonsten waren wir so gut wie allein in dem riesigen Rund.

Groß: das Stadion Maracanã
 

„Hier sieht man ja gar nichts“, fand die Amy
Doch, den Rasen und die andern Sitze.
„Ich meine die Spieler. Die sind doch dann nur so kleine Punkte, die dort hinten herumlaufen.“
„Dafür gibt’s die Videowände rundherum. Dort sieht man dann alles von nahem.“
„Wenn ich mir das Spiel auf dem Bildschirm anschauen muss, brauch ich nicht ins Stadion zu kommen“, hat die Amy insistiert.

Ich persönlich fand ja, dass sie übertrieb. Bestimmt war der Blick aufs Spielfeld völlig ausreichend. Zum Beweis bin ich mit dem Paule schnell man hingeflogen (den Pit und den Karlsson haben wir dagelassen, weil wir nicht wussten, ob Hund und Katze auf dem Rasen erlaubt waren). Kurz neben dem Mittelkreis sind wir gelandet und haben mit den Flügeln gewedelt. Gerufen haben wir auch, aber keine Antwort erhalten. Unterdessen sollte die Cora Fotos machen. Als wir wieder zurück auf dem Sitz saßen und die Fotos in der Digicam kontrollierten, zeigte sich, dass von uns nichts zu sehen war.
„Siehste!“, hat die Amy triumphiert. „Sag ich doch, das Stadion ist zu groß, um das Spielfeld zu überblicken.“
Von der Polly kam noch der Einwand, dass der Paule und ich zu popelig wären (ja, das war das Wort - popelig), um als Vergleich mit einer Fußballmannschaft zu gelten, aber da hat die Amy schon nicht mehr zugehört. Sie war sichtlich entzückt, dass sie endlich mal recht hatte. Beseelt grinste sie vor sich hin.

Inzwischen war es Nachmittag geworden. Von der Mia wurden wir nun Richtung Hotel getrieben.  Wir müssten uns frischmachen für den Abend, hieß es.
„Los, los! Keine Müdigkeit vorschützen.“
Übrigens: Das WM-Endspiel im Maracanã-Stadion 1950 zwischen Brasilien und Uruguay gewannen die Gäste mit 2 : 1. So was schmerzt, besonders vor heimischer Kulisse in nagelneuer Arena, die doch hätte den Triumph besiegeln sollen. Manche behaupten, dass dies ein kollektives Drama gewesen sei, von dem sich die Brasilianer bis heute nicht ganz erholt hätten.

Zurück im Hotelzimmer haben sich die Mädels sofort der Hygiene hingegeben.
„Ach, was bin ich verschwitzt“, hat selbst die Polly zugegeben.
Während die Weiber duschten, hat der Paule seine Ansichtskarten geschrieben. Der Text war immer gleich, nur das Motiv und die Anrede wechselten:

„Meine liebste Evelyn, ich grüße dich aus Rio de Janeiro. Unser Männer-Ausflug ist sehr lehrreich. Wir besichtigen viel und essen exotische Früchte. Ich vermisse dich unendlich, dein Adonis Paule.“
An eine Annabelle kann ich mich noch erinnern, an eine Mitzi, eine Alexandra, eine Melli, eine Ruth und eine Gloria. Na, hoffentlich kam er selbst nicht durcheinander bei den vielen Namen. Und was meinte er eigentlich mit dem Männer-Ausflug?
„Wahrscheinlich will er nicht, dass seine Elsen wissen, dass er mit andern Mädels verreist“, hat der Karlsson gesagt.
Ja, das könnte hinkommen, obwohl die Mia, die Cora, die Amy und die Polly nun wirklich keine Konkurrenz waren. Unser Adonis (hahaha – grotesk!) befürchtete Eifersucht. So was nennt man ja wohl Schwerenöter.

„Hey, man guckt andern Leuten nicht über die Schulter“, hat sich der Paule jetzt selbst zu Wort gemeldet.
Sorry, aber anders ging's nicht, denn ich musste doch wissen, was der Kerl nach Hause schrieb. Notfalls hätten wir die Karten vor dem Abschicken abfangen müssen, falls sie so kompromittierend gewesen wären, dass sie wegen Unerfahrenheit oder Leichtsinn unsere weiteren Reisen gefährdet hätten, doch so, mit dem Gesülze an seine Schnallen, konnte der Paule problemlos passieren.
 
Wir gingen mit runter in die Hotellobby. Dort gab der Paule seine Karten zum Frankieren und Absenden an der Rezeption ab:
„Einmal bitte auf die Rechnung von Mister Luke.“
So einfach konnte das Leben sein. Der Pit, der Karlsson und ich haben uns anerkennend zugenickt.

Ansonsten ging es dem Karlsson leider nicht so gut. Er klagte über Halsschmerzen. Im Männerklo haben wir ihm die Locken zur Seite gepult. Blaurote Striemen kamen zum Vorschein. Die hatte er sich zugezogen, als die Polly ihm am Halsband gepackt und aus der Gondel gezogen hatte. Bald kamen noch Schmerzen an den Hüften hinzu. Auch dort hatte er blaue Flecken, wahrscheinlich vom Gehoppel auf dem Hintern über die Schwelle der Gondel hinweg. Der Karlsson lahmte jetzt richtig, ging etwas krumm und jaulte ab und zu leise auf. Es konnte einem das Herz brechen. Der arme Kerl.

„Willst du daheim bleiben?“, hat die Mia wissen wollen.
Um Gottes Willen – nein! Er komme natürlich mit, es werde schon gehen, nur tanzen werde er vermutlich nicht gut können. Von der Cora hat er dann noch eine Tablette bekommen, und die Amy hat ihm mit der Pfote beschwörend vorm Hintern herumgefuchtelt.
„Was soll das denn werden?“
„Reiki. Ist gut für die Selbstheilungskräfte.“
Für mich sah es eher so als, als würde die Amy einen imaginären Teig auf dem Karlsson kneten. 
 
Als es Zeit wurde zum Abendessen, standen die Mädels aufgebrezelt zum Abmarsch bereit. Alle waren frisch geduscht und aufgetufft an Gefieder beziehungsweise Fell und jede (außer der naturverbundenen Polly) miefte wie eine halbe Parfümerie. Strandtaschen waren übrigens out, falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte. Man trug jetzt kleine Opernbeutel quer überm Busen. Die Mia hatte sich außerdem mit goldenem Glitzerpuder eingesprüht (festgehalten von Unmengen an Haarspray), während die Cora der feuchten Hitze wegen auf ihre hellblaue Boa verzichtete, aber dafür ein Diadem aus Strasssteinchen trug. Die Amy duftete intensiv nach Vanillebananen.
„Das ist „Samba Nights“ von Chico Torelli“, hat sie beleidigt gemeckert. „Hatte ich extra im Internet bestellt.“
Der Versuch der Mia und der Cora, ihr ein lila Lurexband in den Schwanz zu flechten, war leider misslungen, so dass sich Amys ehemals glatter Schwanz jetzt wegen der fliegenden Haare zu einer Art Mohair-Muff aufgebauscht hatte. Das verlieh ihr ein leicht ältliches Aussehen, zumindest von hinten. Als Einzige der Kosmetikorgie entzogen hatte sich die Polly, die nur frisch geduscht roch und ein glänzendes Fell zeigte – völlig ausreichend unserer Männer-Meinung nach. 
 
Da der Karlsson, der Pit, der Paule und ich uns bisher noch nicht geduscht hatten, es aber Zeit wurde, weil wir gleich nach dem Abendessen zum Sambodrom aufbrechen wollten, kam es kurzzeitig zu einem aufgeregten Disput, denn wir Männer fanden uns noch völlig sauber, während die Mädels (diesmal mit der Polly) insistierten, sie würden uns aus der Limousine oder – je nachdem – aus der Loge werfen, wenn wir anfangen sollten zu stinken. Auf ungewaschene Männerachseln hätten sie jedenfalls keinen Bock. Das war uns aber egal. Im Übrigen stinken Männer nicht, nicht mal in 80 %  Luftfeuchtigkeit, sie riechen höchstens würzig. Der Paule mit seiner Goldschärpe war außerdem endlich mal dem Anlass entsprechend korrekt gekleidet. Er passte gut zu Mias Goldflitter. Auch der Pit hatte Rücksicht genommen und extra eine schicke grüne Provianttüte mit bronzefarbener Aufschrift gewählt. Jetzt sollte noch mal einer sagen, wir hatten keinen Stil. Die Mädels gaben sich endlich geschlagen und marschierten kopfschüttelnd zum Lift. 
 
Gegessen wurde diesmal im Hotelrestaurant. Da die Speisekarte international war, gab es keine Probleme mit der Auswahl. Der Pit bestellte Hummer, die Polly, die Amy und der Karlsson Steaks, die Cora Tortellini, die Mia Risotto, der Paule eine Gemüseplatte mit einer leichten Vinaigrette und ich Fischstäbchen, die es aber leider als Einziges nicht gab. So habe ich auf Lasagne umgeschwenkt.
„Esst euch nur tüchtig satt“, hat die Mia empfohlen. „Wir müssen bis 5.00 Uhr morgen früh durchhalten."
Wieso? Seit wann standen wir mitten in der Nacht auf, um etwas zu essen? Hatten wir doch sonst nie gemacht.
„Nicht aufstehen – wir gehen gar nicht erst schlafen. Die Veranstaltung im Sambodrom beginnt um 21:30 Uhr und geht bis etwa 5.00 Uhr morgens.“
Hui, da klappte aber manchem der Kinnladen runter. Das war ja mal 'ne Ansage. 
 
Kein Zitronenwasser: Caipirinha


Der Pit hat geistesgegenwärtig gleich noch ein paar Burger bestellt, um sie in Servietten gewickelt in die Provianttüte zu packen. Von der Mia kam eine Runde Caipirinha, zum Vorglühen, wie sie sagte. Davon kriegte die ungeübte Amy gleich einen in die Krone. Sie lachte albern, sogar über die blöden Stammtischwitze vom Paule. Beim Karlsson dagegen begann die Schmerztablette zu wirken. Er bewegte sich wieder etwas geschmeidiger. Weil sich Alkohol aber nicht gut mit Medizin verträgt, musste er beim Trinken maßhalten.
„So was Dummes aber auch“, hat die Cora ihm Mitleid zugebilligt.
Sie selbst hatte noch nicht mal angefangen mit dem Schlucken. Das war auch gut so, denn sie konnte ja nicht wissen, dass die Mia ein hochprozentiges Getränkesortiment in unsere Loge hatte bringen lassen. Mit Flüssigem waren wir also gut versorgt.

Als wir am Sambodrom ankamen (die Limousine hatte uns selbstverständlich gebracht), war es stockfinstere Nacht. Jemand begleitete uns zu unserer Loge. Von dort aus konnte man hervorragend auf die Bahn schauen, wo gleich die Akteure vorbeiziehen würden. Auch die Tribünen gegenüber und neben uns waren schon mit Menschen dicht gefüllt.
„Siehst du, Amy?“, hat die Cora gesagt. „Hier ist niemand als Kleopatra verkleidet. Die Leute sehen alle ganz normal aus.“
Der Pit wunderte sich, warum der Trubel so spät losging (halb zehn!) und so lange dauern sollte. Hätte man nicht eine manierlichere Uhrzeit wählen können?
„Naaa“, wusste die Polly zu erklären. „Spät abends ist es nicht ganz so heiß wie tagsüber. Außerdem treten ja sechs Sambaschulen gegeneinander an, und jede Mannschaft hat rund 80 Minuten Zeit für ihren Auftritt, das summiert sich.“

Überhaupt ist im Sambodrom wenig spontan. Das meiste ist natürlich eingeübt, außerdem vom strengen Protokoll reglementiert. Das sollten wir gleich selbst erleben, weil sich die Abläufe immer wiederholten. Dazu gehört, dass jede Sambaschule ein Thema wählen und einen Song dazu komponieren muss. Auch die Reihenfolge, in der die einzelnen Sektionen auftreten, ist vorgegeben. Vierzig Punktrichter verteilen Noten für das Thema, die Komposition, wie gut der Song gesungen wird, für die Harmonie und die Choreographie der Darbietungen, die Kreativität der Wagen, die Leistung der Musiker usw. Da es Punktabzug gibt, wenn eine Sambaschule zu schnell oder zu langsam unterwegs ist und die Sänger so gut wie alles begleiten müssen, bedeutet dies für das Publikum, dass jeder einzelne Song 80 Minuten lang über die Lautsprecher dröhnt – immer von vorn, live gesungen, bis man durch ist. Natürlich ist es eine eingängige Samba, zu der es sich leicht im Takt mitschwingen lässt, aber trotzdem – 80 Minuten lang? Immer das gleiche Lied? Ich glaube, man muss schon Brasilianer sein, um das gut durchzustehen.

Aber erst mal waren wir ja noch am Anfang und wussten noch nicht, was auf uns zukam. Die Cora kramte mit dem Paule den Alkoholvorrat durch. Wie wir wissen, sind beide trinkfest, wobei es den Paule auch aus diesem Grund immer wieder ins Knallbirnenheim verschlägt. Die Cora hat sich diesbezüglich längerfristig und vor allem sozial weit besser im Griff. Sie verteilte weitere Caipirinhas, allerdings wurde die Amy ausgelassen, damit sie nicht schon in der ersten Stunde über den Jordan ging. Der Karlsson hat sich auf einen Schnapskarton gesetzt und die Schnauze aufs Geländer der Loge gelegt. So konnte er gut sehen, ohne allzu sehr seine blauen Flecken bewegen zu müssen.

Endlich ging es los. Ein ohrenbetäubender Lärm krachte uns in die Ohren. Ein Jubeln ging durch die Ränge, vor uns begann sich eine Orgie aus Farben und allerlei bunten Kostümen zu entfalten. Jede Sambaschule trug natürlich ihre eigenen Farben: blau-weiß, grün-rosa, gelb-braun oder wie auch immer. Es wollte kein Ende nehmen. Immer neue Gruppen drängten nach: Tänzerinnen, die sich in weiten Kleidern drehten und aussahen wie Törtchen auf einem Tablett oder die historische Kostüme trugen; die Musiker, die mit Pauken, Tamburinen und anderen Perkussionsinstrumenten einen stampfenden Rhythmus zustande brachten, die Wagen mit allerlei Kunstfiguren und halbnackten Frauen, die mit mit riesigen Flügeln auf dem Rücken dastanden und sich beklatschen ließen; der sogenannte mestre-sala und die porta-bandeira, das Paar, das eine Flagge trägt und ununterbrochen tanzen muss und Punktabzüge kassiert, wenn der Hut runterfallen sollte oder sie sich beim Tanzen den Rücken zukehren. Und nicht zuletzt die rainha da bateria, die Dame also, die vor der Kapelle tanzt, ist eine junge Frau im knappen Bikini, der der Auftritt im Karneval oft zu großer Popularität verhilft. 


Phantasievoll in Hellblau









Kreisende Törtchen
Mestre-sala und porta-bandeira
 

Die Teilnahme im Sambodrom ist für die Sambaschulen der Höhepunkt des Jahres. Kein Wunder, man hat sich schließlich ein Jahr lang darauf vorbereitet, die Kostüme genäht, die Wagen geschmückt, die Musik komponiert, das Thema definiert und geübt, geübt, geübt. Fast alle teilnehmenden Sambaschulen stammen im Übrigen aus einer Favela. Dort haben die Sambachschulen – die übrigens nur so heißen und in Wirklichkeit Vereine sind – eine große gesellschaftliche und soziale Bedeutung. Dort pflegt man nicht nur die gemeinsame Identität über den Karneval, sondern bietet seinen Mitgliedern zum Beispiel auch Computerkurse oder andere Starthilfen für den Alltag an. Dennoch geht natürlich das meiste Geld in den Höhepunkt am Sonntag oder Montag, wenn man im Wettstreit der Besten mitmachen darf. Die Kostüme sind aufwändig und kosten bestimmt ein Vermögen.

„Super“, hat die Mia geschwärmt.
Sie ließ gemeinsam mit der Cora die Hüften kreisen, in den rechten Krallen je ein Cocktailglas mit irgendwas drin. Die Amy stand mit den Vorderpfoten auf dem Geländer und brüllte unentwegt „Bravo!“ hinunter. Ob ihr bekannt sei, dass „bravo“ in Brasilien „wild“ bedeutet, hat die Polly mich angeschrien. Sie musste so brüllen, weil man wegen des Lärms nicht anders durchkam. Was die Tänzer wohl dachten, warum die crazy schwarzweiße Touristin dort in der Loge ihnen ständig „wild-wild-wild“ zuschrie? Aber wahrscheinlich konnten sie es gar nicht hören, da wir ja schon von nahem kaum etwas verstanden. Der Pit hatte sich eine Papierserviette kleingerissen und sich die Fetzen in die Ohren gesteckt.
„Gibt mir auch was“, habe ich gesagt.
„WAS?“
Erst als ich mir selbst eine Serviette aus der Provianttüte geangelt hatte, kapierte der Pit, was ich von ihm wollte. Aaah, mit dem Zeug im Gehörgang ließ es sich gleich viel besser leben. Auch die Polly hat dankbar zugegriffen, ebenso der Karlsson. Wir jedenfalls würden heute keinen Gehörsturz erleiden. Vom Paule war die meiste Zeit nur sein wippender Schwanz zu sehen. Da er den Schnabel auf und zu klappte (jenseits der regelmäßigen Schlücke aus seinem Schnapsglas), war davon auszugehen, dass er mitsang. Na ja, bei 80 Minuten vorgesungenem Text war das ja auch keine Kunst mehr. Er war bester Laune. Der Karlsson dagegen mit seiner Schnauze auf dem Geländer bewegte sich keinen Millimeter. Nur die Augen folgte aufmerksam dem Treiben von rechts nach links. Ab und zu nippte er an einem Glas Guaraná.

Mir persönlich schmeckte der Cocktail ausgezeichnet, den die Cora mir vorbeigebracht hatte. Mit dem Alkohol im Blut ging die Zeit auch viel schneller herum. Irgendwann merkte man nicht mehr, dass man schon seit zwanzig Stunden auf den Beinen war. Die Farben unter uns hatten inzwischen gewechselt und auch die Musik war eine etwas andere geworden, aber immer noch jubelte, klatschte und tanzte das Publikum auf den Rängen, ganz so, als hätte alles gerade eben erst begonnen.

Eine Trommlergruppe in Gelb
 

Die Cora, die Mia, der Paule und die Amy waren ebenfalls noch gut in Bewegung. Allerdings kam Gelalle aus Amys Schnauze. Ihr „Bravo!“ klang nicht mehr ganz so deutlich – erklärlich bei zu viel Schnaps in der Birne. Die Polly hatte sich inzwischen zusammengerollt und unter einem Sitz schlafen gelegt. Ihr war alles zu anstrengend geworden. Gleich daneben lag der Pit und kaute an einem Burger, dem letzten, den er noch hatte. So verfolgte jeder seine eigene Strategie, um am Leben zu bleiben. Ich wurde allmählich müde. Noch stand die letzte der sechs teilnehmenden Sambaschulen aus. Ich fand es eine enorme Hilfe, dass ich mir Pollys Brustventilator hatte ausleihen und auf mich richten dürfen. Jedenfalls hatte sie nichts gesagt, als ich ihn abgeklipst und mir selbst angesteckt hatte. Die Schwüle wäre sonst unerträglich gewesen. Auch der Karlsson hielt sich standhaft auf seiner Schnapskiste. Er als einziger Wacher ohne jegliche Alkoholdröhnung musste es besonders schwer haben. Saufen durfte er nicht, aber die Hüften schmerzten. Insgeheim habe ich ihn sehr bewundert.

Doch irgendwann war auch diese Nacht vorüber. Alle Karnevalsgruppen hatten gezeigt, was sie konnten. Wir durften nach Hause gehen. Wir weckten die Polly und sagten dem Pit, dass er die Serviettenschnipsel aus den Ohren nehmen könne. Die Amy war hackebreit und musste vom Paule, der noch gerade gehen konnte, weil er so viel vertrug, in die richtige Richtung aus der Loge hinaus, durchs Gebäude, auf die Straße und zu unserer Limousine geleitet werden. Die Mia hatte die Cora im Flügel und beide grölten irgendwas, das entfernt wie Samba klang, aber so wie zwei abgefüllte deutschen Tussis denken, dass es so richtig sei. Ich hielt Pits Provianttüte bereit, um sie der Amy zu reichen, falls sie ins Auto kotzen wollte. Der Karlssons reckte und streckte sich. Er war froh, dass er sich endlich auf den Rücksitz legen konnte. Über sieben Stunden lang hatte er sich keinen Zentimeter gerührt. Meine Hochachtung grenzte jetzt an Verehrung.

Mit viel „Psst“ und „Leise!“ sind wir in unserm Hotelzimmer gelandet. Die vier Abgefüllten haben sich sofort aufs Bett geworfen und sind eingeschlafen. Nicht mal abgeschminkt hatte sich die Mia, und auch die Cora trug noch ihr Strasskrönchen, wenn auch inzwischen am Bauch. Wusstet ihr, dass die Amy schnarcht? Und der Paule redet im Schlaf. Soviel ich verstanden habe, ging es um ein Streifenhörnchen namens Coco, das er zum Karneval in Rio ausführen wollte.

Die Polly hat noch ein wenig im Reiseführer gelesen, während der Karlsson ebenfalls eingeschlafen war und der Pit noch einen Schokoriegel aß. Wie lange das dauerte, weiß ich nicht mehr; als ich aufwachte, war es jedenfalls hell und meine Kehle war trocken. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich daran erinnern, dass niemand uns Männer aus der Loge oder der Limousine geworfen hat, nicht wegen Mief und nicht wegen was anderem, womit bewiesen wäre, dass die Weiber übertreiben – alle. Allerdings lag jetzt ein deutlicher Schnapsgeruch im Raum, das muss ich zugeben. Neben mir schnarchte noch immer die Amy. Die Uhr zeigte fast Mittag. Vom träumenden Paule kamen jetzt Nachrichten über eine gewisse Lucie, der er versicherte, sie nie mit einer Marianne betrogen zu haben. Die Cora war schon auf und klimperte im Bad herum. Bei ihr war die Mia. Das konnte man hören. Nur die Polly und der Karlsson fehlten und der Pit. 

Exotisch: im Botanichen Garten
„Die sind zum Botanischen Garten gefahren“, hat die Cora die Nase aus der Badtür gesteckt.
Wie? Allein?
„Ja, hättest du denn mit gewollt? Du hast doch heute morgen um dich geschlagen und „Lasst mich, ihr Teufel!“ geschrien. Wen hast du denn damit gemeint?“

Ich fand es bedenklich, dass die drei allein im Park herumliefen, denn man weiß schließlich, dass Rio ein gefährliches Pflaster ist, und der Karlsson konnte sich im Moment doch nicht gut bewegen. Was ist, wenn sie überfallen wurden, wenn man sie beraubte?
„Der Pit hat nur seine Provianttüte dabei“, hat sich jetzt der Paule aus dem Bettlaken gemeldet. „Meinst du nicht, dass ein Kater gut kratzen und ein Hund gut beißen kann?“
Na ja, schon, aber … ach, ich weiß auch nicht. Jetzt waren sie unterwegs und wir konnten eh nichts dran ändern.

Als ich aus der Dusche kam, war auch die Amy wach und die Cora hatte das Frühstück bestellt, äh, ich meine das Mittagessen. Es wurde uns in gewohnter Weise mit dem Servierwagen ans Fenster gerollt. Die Orangen und die Papaya taten richtig gut. Ich hatte Durst. Die Amy klagte über Kopfschmerzen. Sie soff eine ganze Flasche Mineralwasser auf einmal aus. Kein Wunder, sie war heute morgen ja noch sternhagelvoll gewesen.
„Möchte sich jemand krankmelden?“, habe ich gefragt.
Keiner meldete sich. Der Paule, die Cora und sogar die Mia sahen einigermaßen frisch aus, so als hätten sie gestern nicht ebenfalls zugelangt. Die Hennen begehrten jetzt einen Ausflug an den Strand, denn wenn man schon mal an der Copacabana war, müsse man das ausnutzen, hieß es. Mir war das recht. Nur nicht viel bewegen, sonst fing der Schädel wieder an zu brummen.

Wir haben ein paar Handtücher eingepackt und sind nach unten gefahren, um an der Rezeption zu fragen, ob das Hotel einen eigenen Strandabschnitt habe. Ja, hatten sie.
„Schreiben sie das bitte mit auf die Rechnung von Mister Luke.“
Ich habe ein privates Karree gebucht mit drei Metern Abstand nach links und rechts, freier Sicht aufs Meer und Kellner-Bedienung. Die Mia schaute mich dankbar an. Unten am Strand wartete ein Sonnenschirm auf uns. Wir tonnten uns auf die Handtücher in den Sand. Die Sonne schien grell und ließ die flachen Wellen silbern glitzern.
„Ui, ich liege an der Copacabana und lass mir einen Maracujasaft servieren“, hat die Amy behaglich vor sich hingeflüstert. „Das wird mir zu Hause keiner glauben.“
Na, wenigstens unsere Landpomeranze war zufrieden. Mir war es etwas zu heiß trotz Nähe zum Wasser. Ich habe mit dem Paule Mau-Mau gespielt, während die Cora und die Mia erst in einem Magazin geblättert hatten und dann wieder eingeschlafen waren.  


Der Strand ist an manchen Stellen ziemlich breit


„Hast du echt mehrere Weiber auf einmal?“, habe ich den Paule angesprochen.
Mich interessierte das – aus wissenschaftlicher Neugier, so von Mann zu Mann.
„Klar“, hat er geantwortet.
„Und wie machst du das, ohne dich zu vertun?“
„Mit Köpfchen. Man muss immer wissen, was man zu wem sagt – und nie die Weiber mit ihrem Namen anreden, sondern lieber Schatz sagen oder Mausi, das ist neutral. Ich meine natürlich nur rein theoretisch. Es soll ja Männer geben, die im Schlaf reden. Die haben dann natürlich schnell die Arschkarte.“
Warum hatte ich auch gefragt? So genau wollte ich es gar nicht wissen. Für mich waren das alles böhmische Dörfer. Ich würde mich nie an eine Frau binden.

Gerade als es langweilig zu werden begann, sah ich drei Gestalten den Strand entlangkommen. Es waren ein mittelgroßer Hund, ein kleinerer Hund und ein ganz kleiner Hund. Hey, das waren ja die Polly, der Karlsson und der Winzling war der Pit! Bestimmt hatte man ihnen im Hotel gesagt, wo sie uns finden konnten. Sie setzten sich zu uns unter den Sonnenschirm.
„Super, dass ihr noch lebt“, habe ich mich gefreut.
„Ja, warum denn nicht?“, hat sich die Polly gewundert.
„Und Ihr wart die ganze Zeit im Botanischen Garten?“
Wir ahnten ja gar nicht, wie frisch und kühl es dort wäre unter den dichten Baumkronen der hohen Bäume. Einmalig, die Luft, da könne man den ganzen Tag herumlaufen. Die Polly war sichtlich begeistert.
„Und wie geht es deinen blauen Flecken, Karlsson?“
„Sehr gut. Die Hüfte tut nicht mehr weh und auch der Hals nicht.“
„Und ihr seid wirklich die ganzen Stunden seit heute Morgen dort herumgelaufen?“
Nö, eigentlich nicht. Sie seien dann mit der Limousine die Strände langgefahren: Ipanema, Leme, Botafogo und wie sie alle heißen. Das habe gaz schön lange gedauert, weil Rio ja nicht gerade klein ist. Zurück sei man über Schleichwege gefahren, etwas außerhalb über Berge zurück in die Stadt. Das sei vielleicht ein Erlebnis gewesen – der absolute Hammer. Streckenweise habe man nämlich auf die Wolken hinabschauen können. Ja, wir hätten richtig gehört: hinab, weil die Straße höher gelegen habe als die Wolken. Das müsse man sich mal vorstellen: Grün um sich herum,  der Blick weit ins Tal und dann der helle Dunst der Wolken mittendrin. Auch der Karlsson war jetzt am Schwärmen.

Auch das ist Rio: total grün am Rand


„Und du, Pit, hast du auch was Tolles gesehen?“, hat die Cora gefragt
„Ja, der Fahrer hat uns eine Favela von nahem gezeigt. Das sind die typischen Häuser, die so übereinandergeschachtelt am Hang hängen. Viele Favelas haben Strom und Wasser und sind nicht zwangsläufig so arm ausgestattet, wie es ein Slum vermuten lässt. Aber der Fahrer hat gesagt, man sollte da nicht reingehen, weil die Favelas eine eigene Identität haben und meist auch eigene Gesetze und es sehr gefährlich werden kann, wenn man dort eindringt, obwohl man nicht dazugehört. In andern Gegenden der Stadt ist es genau umgekehrt. Dort haben die Reichen ihre Villen am Hang stehen, natürlich mit viel Platz dazwischen und nicht wild gebaut. Die Lage am Hang bietet Sicherheit, weil man sich dort bautechnisch gut abschotten kann.“

Platzsparend: Architektur in der Favela


„Und wer hat euer Essen bezahlt?“, wollte die Mia wissen.
„Unser Fahrer. Ging alles auf die große Rechnung.“
„Wir hatten Burger und Pommes“, hat der Pit hinzugefügt.
Na, dann war ja alles in Ordnung. Gut, dass wir darüber geredet hatten.

Die Mia hat bei unserm Privatkellner acht Eisbecher bestellt. Dazu hatten wir ein kleines Handy mitgekriegt, über das man seine Wünsche durchgeben konnte. Mit einem großen Tablett in der Hand kam der Kellner durch den Sand gestiefelt. Das Eis schmeckte richtig gut. Anschließend haben wir alle noch ein wenig gedöst, um Kraft zu sammeln für den zweiten Nachtmarathon im Sambodrom.
„Müssen wir da wirklich hin?“, hat jemand gefragt.
Ich verrate nicht, wer es war.
Enttäuschte Blicke von der Mia machten die Runde. Das habe sie nicht von uns gedacht, dass wir so undankbar seien. Der Luke, dieser feine, feine Kerl spendiere uns diese teure, teure Loge, auf die viele Leute total neidisch seien, und wir hätten nichts anderes zu tun als zu meckern. Pfui, wir sollten uns was schämen.
„Ich schäme mich nicht. Ich freue mich auf heute Nacht“, hat die Amy gesagt.
Ja, klar, wann sonst bekäme die Landnudel noch mal die Gelegenheit, sich ordentlich wegzuschießen?

Okay, hat die Mia schließlich eingelenkt, dann werde sie mal eine Ausnahme machen und jetzt schon verraten, dass der Luke eine Überraschung für uns in der Nacht arrangiert habe:
„Aber nur für uns Mädels!“
„Toll-tollt-toll!“, hat die Amy in die Pfoten geklatscht.
Die Polly erwies sich als nicht ganz so überzeugt:
„Das kann ja heiter werden.“
Bestimmt hatte sie schon eine böse Ahnung.

Bedeutete das, wir Jungs mussten uns jetzt Sorgen machen? Oder waren wir im Gegenteil entlastet? Leider ließ sich die Mia nicht auf weitere Informationen ein. Sie meinte nur, wir sollten uns wie gehabt rechtzeitig fertig machen, weil wir nach dem Abendessen wieder direkt ins Stadion führen.

Fürs Abendessen hatten die drei Besucher des Botanischen Gartens einen Vorschlag zu unterbreiten: Wir wäre es, wenn wir mal ein traditionelles brasilianisches Gericht ausprobierten? Gleich um die Ecke hätten sie ein entsprechendes Restaurant gesehen. Da nichts Gegenteiliges geäußert wurde, kehrten wir dort ein. Der Karlsson bestellte für uns alle, und zwar Feijoada. Keiner wusste, was das ist. Umso erstaunter guckten wir, als uns ein großer Teller mit Reis, einer Art geschnippeltem Kohlgemüse und einer Linsensuppe vorgesetzt wurde. Wie? Kein Fleisch? Ich meine, uns Vögeln war das ja ziemlich egal, aber was sagten die Hunde und der Pit dazu? Und was sollten die Orangenscheiben dabei? Waren die kalt? 

Feijoada


Vom Kellner erfuhren wir, dass es sich keineswegs um Linsen handelte, sondern um schwarze Bohnen. Aha, das machte ja einen enormen Unterschied aus. Und die Orangenscheiben waren tatsächlich kalt, nicht angewärmt. Um ehrlich zu sein, es gibt Dinge, die ich nicht probiert haben muss, um eines Tages glücklich zu sterben. Beipflichtendes Nicken erreichte mich von der Polly, der Amy und dem Karlsson. Nur die Cora und die Mia probierten die Bohnen und den Reis. Der Paule aß die Orangenscheiben, und der Pit, dieser Vielfraß, hat sich mit allem den Bauch vollgeschlagen. Er fand das Essen sehr lecker. Später haben wir am Ende der Straße einen mobilen Futterwagen gefunden, von dem man frittierte Fleischspieße kaufen konnte. So ist jeder, der bis dahin noch nicht satt war, zu seiner nötigen Magengrundlage gekommen.

Im Sambodrom hatte man inzwischen unsere Loge aufgeräumt und ausgefegt. Der Alkohol war noch da. Die Cora hat gleich jedem eine Caipirinha gemixt. Weil der Karlsson keine Tabletten mehr nehmen musste und sich auch wieder so geschmeidig wir früher bewegte, fing für ihn das Vergnügen erst richtig an.
„Prost!“, hat er gerufen und das ganze Glas auf einmal runtergeschüttet. „Noch einen bitte.“

Die Mia hatte ein Opernglas dabei. Ansonsten war sie ungeschminkt. Das kam mir verdächtig vor. Auch die Cora trug kein Strassdiadem, auch nicht ihre hellblaue Federboa. Allerdings hatten beide wie gestern nicht am Parfüm gespart, ebenso wenig die Amy, die heute sogar noch aufdringlicher nach Vanillebananen roch. Daher habe ich zugesehen, dass ich einen Platz möglichst weit weg ergatterte.

Dann ging alles vorne los, alles, was wir von gestern schon kannten, nur dass jetzt die restlichen sechs Sambaschulen dran waren. Jede hatte wieder 80 Minuten Zeit, hatte ein Lied komponiert, das 80 Minuten lang in Schleife über die Lautsprecher dröhnte; die Kapellen marschierten wieder, opulent geschmückte Wagen zogen vorbei und auch die tanzenden Törtchen gaben wieder ihr Bestes. Diesmal verteilte die Polly Watte aus dem Hotel für die Ohren. Alle außer der Cora, der Mia, dem Paule und der Amy griffen erfreut zu. So ließ sich das Gedröhne wieder erträglich machen. Die vier Hartgesottenen vertrauten diesbezüglich lieber auf die unterstützende Wirkung des Alkohols. Die Cora hatte viel zu tun, den Nachschub an Caipirinhas zu verteilen. Diesmal gehörte auch der Karlsson zu ihren treuesten Kunden. Er stand jetzt auf dem Sitz für einen besseren Überblick, trampelte im Rhythmus der Trommeln, sang „La-la-la“ oder „Jö-jö-jö“, je nach Text, und verkleckerte in seiner Begeisterung jede Menge Schnaps.
„Hey, pass doch auf!“, hat sich die Polly beschert, die vor ihm stand und immer wieder eine Dusche abkriegte.
Sie selbst ging wie gewohnt in Natur und erfrischte sich an ihrem mobilen Ventilator.

Ein Wagen zieht vorbei

Nackte Haut gab's auch
 

Die Amy hatte wieder ihre Mission aufgenommen, die Vorbeiziehenden mit endlosen „Bravo!“-Rufen zu feiern, allerdings neuerdings unterstützt vom engagierten Paule, der auf dem Geländer saß, den Akteuren zuprostete und „Helau!“ und „Alaf!“ brüllte. Hätte nur noch gefehlt, dass der Pit Karmellen aus seiner grünen Provianttüte geholt und in die Menge geworfen hätte. Doch der hockte nur still neben dem Karlsson und schob sich hin und wieder einen Keks ins Maul. Einige der Cocktails, die die Cora so großzügig unters Volk gebracht hatte, nahm die Mia der Amy wieder aus der Pfote, denn es war ja noch eine Überraschung geplant, zu der man offenbar die Amy noch brauchte.

Ja, stimmt. Was hatte es denn mit dieser ominösen Überraschung auf sich? Wir mussten noch bis nach Mitternacht warten, bis die Mia plötzlich meinte, alle Mädels sollten mit ihr mitkommen.
„Wohin?, hat die Polly gegen den Krach angeschrien.
Nach unten auf die Plattform, sie würden jetzt geschminkt werden, ein Kostüm kriegen und mit der nächsten Sambaschule mitlaufen dürfen.
„Echt? Das ist ja phantastisch!“, hat die Cora gejubelt, nachdem sie endlich verstanden hatte, um was es ging. „Mia, du bist einfach super – und der Luke natürlich auch.“

Es dauerte noch eine Weile, bis alle Unklarheiten beseitigt waren, denn gegen den Krach anzubrüllen, erforderte verstärkte Energie. Die Mia war schon ganz rot am Kopf. Immerhin hatten wir inzwischen erfahren, dass auch Fremde (wie Touristen) im Feld mitlaufen dürfen, sofern sie einen Obolus entrichten und das Kostüm bezahlen. Natürlich handelt es sich um Positionen im Fußvolk, die nicht exponiert sind und daher auch wenig Gefahr bergen, dass die Touris etwas falsch machen. Die Mädels waren trotzdem hin und weg – außer der Polly natürlich, die meinte, sie werde sich doch hier nicht zum Affen machen und mit so einem Glitzerding vor aller Augen über den Parcours laufen.
„Wir brauchen dich aber, du musst die Cora tragen“, kam der Einwand von der Mia.
Dann wurde die Polly einfach von der Amy mit der Stirn zur Logentür rausgeschoben, und weg waren sie. Wir Jungs blieben zurück. Glücklicherweise hatte die Mia das Opernglas dagelassen. Wir konnten es nicht abwarten, die albernen Weiber dort unten auszumachen. Sicher wären sie sofort erkennbar und ganz bestimmt keine Zier für die Sambaschule, die den Fehler begangen hatte, sich auf diesen zweifelhaften Deal einzulassen.

Waren sie irgendwo dazwischen?


Von nun an hatten wir alle Hände voll zu tun, reihum mit dem Opernglas das Feld abzusuchen, um ja nichts zu verpassen. Auf diese Weise kamen wir nicht recht zum Tanzen und nicht zum Trinken, obwohl sich der Paule alle Mühe gab, uns mit Cocktails zu versorgen. Die Entspannung war irgendwie hin.
„Siehst du sie schon?“, hat dauernd jemand geschrien, und genauso monoton hat derjenige am Opernglas geantwortet:
„Nei-eeein!“
Allmählich tränten mir die Augen von den vielen sich bewegenden Farben und Mustern. Nahm das denn nie ein Ende? Doch dann endlich der erlösende Schrei:
„Da sind sie!“

Der Karlsson riss dem Pit als Erster das Opernglas aus der Hand. Danach durfte jeder ein paar Sekunden gucken. Wir sahen die Amy und die Polly inmitten einer winkenden Gruppe marschieren. Sie waren die einzigen Tiere. Beide trugen eine Art flachen Fächer auf der Stirn in den Vereinsfarben der betreffenden Sambaschule und dazu ein Flügelpaar auf dem Rücken, entsprechend den Armwedeln der Menschen drumherum. Welche Farben das waren, verrate ich aber nicht, um die Sambaschule zu schützen. Darüber stand (bestimmt auf einem Drahtgestell, denn es war eine gewisse Höhe erreicht) die Mia auf Amys Nacken und die Cora auf Pollys. Sie wiederum trugen je einen Umhang in den gleichen Farben, mit dem sie wild herumwedelten, und warfen dem Publikum mit den Flügeln Kusshände zu. Die rhythmische Umsetzung der Mädels sah ganz ordentlich aus, weil sie weder dem Vordermann in die Hacken traten noch zurückfielen und die Nachkommenden aufhielten, nur hampelten die Hennen nach meinem Geschmack ein wenig zu viel herum, und Punktabzug gab es von uns allen, weil die Amy die ganze Zeit dämlich grinste mit betonierter Mimik, während die Polly ein Gesicht zog wie hingeprügelt und dem Quasimodo versprochen. Beides trübte die fröhlichen Aussage.

„Mann, die sehen vielleicht dämlich aus.“
Darüber waren wir uns alle einig. Und da dies ein für allemal geklärt war, konnten wir uns wieder entspannt dem Feiern widmen.

Als die Mädels zurückkamen, war der Karlsson bereits ziemlich blau, außerdem heiser vom vielen „La-la-la“-Singen.
„Na, wie waren wir?“, hat die Amy gestrahlt.
„Super!“, hat der Pit gesagt. „Ihr wart die Anmutigsten im ganzen Feld.“
„Echt?“, hat die Mia dankbar gelächelt.
Die Cora ist gleich aufgesprungen, um neue Cocktails zu mixen. Einen hat sich die Polly gegriffen und grimmig in den Rachen geschüttet. Oha, deren Stimmung war offenbar für länger verhagelt. Das hat uns aber nicht aufgehalten, es noch mal richtig krachen zu lassen. Am Ende hatten wir auch die letzte der sechs Sambaschulen glücklich hinter uns gebracht. Als es gegen 5.00 Uhr morgens wieder an die Heimfahrt ging, waren es der Paule, der Pit, die Cora, die Mia, die Polly und ich, die noch auf eigenen Beinen zur Limousine laufen konnten. Der Karlsson, blau wie 'ne Kompanie, hat vom Fahrer aus der Loge getragen und in den Wagen gebettet werden müssen, ebenso die Amy, die allerdings der Meinung war, sie liege bereits daheim im Bett, und die sich deshalb weigerte, irgendetwas an Kooperation beizutragen.
„Amy, hör auf den Fahrer anzubellen“, habe ich sie gewarnt.
Schließlich lag sie im Fußraum neben dem Karlsson und schnarchte mit ihm um die Wette.

Der Weg ins Hotelzimmer in unser Bett hat uns (oder besser gesagt den Luke) noch mal eine schöne Stange Trinkgeld gekostet. Aber wenigstens waren alle in Sicherheit und gekotzt hat auch niemand. Ich weiß nur noch, dass ich bis Mittag geschlafen habe. Als ich aufwachte, zeigten sich die Mia und die Cora vor dem Spiegel gegenseitig ihre Kostüme vom Sambodrom, die sie natürlich behalten durften und die der Page inzwischen geliefert hatte. Die Amy hielt sich den Kopf. Neben ihr stand ein Glas mit einer sprudelnden Tablette. Die Polly war mit dem Pit und dem Paule in die Hotellobby gegangen, um Billard zu spielen.
„Fernseher aus! Mein Kopf!“, hat der Karlsson gejammert.
Er machte keinen guten Eindruck. Wohl doch zu viel geschluckt, was?

Das Frühstück haben wir der Einfachheit halber mit dem Mittagessen zusammengelegt. Der Kellner rollte wieder ein erlesenes Sortiment ins Zimmer: Früchte über Früchte, Fleisch für die Zahnträger und magenfreundliche Brötchen mit Marmelade für die besonders übel Angeschlagenen. Letzteres wurde von unsern beiden Schnapsleichen dankbar angenommen. Mit langen Zähnen kauten sie auf den Brötchen herum. Später hat der Pit das Fleisch in seine Provianttüte gesteckt und mit zum Strand genommen. Wir hatten nämlich noch etwa sechs Stunden Zeit, bis unser Flugzeug ging. Hätten wir uns auf die Schnelle noch etwas anschauen, eine kleine Stadtrundfahrt machen sollen? Wir fanden, nein, schließlich hatten wir zwei Invalide dabei und die würden am besten gesunden, wenn sie sich möglichst wenig bewegten. Bis zum Abflug müssten wir sie wieder fit gekriegt haben.

Wir nahmen wieder Platz unterm Sonnenschirm. Vor uns schwappte das Meer träge an den Strand. Der Kellner brachte uns frisch gepressten Zuckerrohrsaft. Hm, schmeckte irgendwie … seltsam, gar nicht süß, wie man vermuten könnte, sondern irgendwie herb mit einem eigenartigen Nachgeschmack.

Kriegt man an jeder Ecke: Zuckerrohr


„Ist das Gurkensaft?“, wunderte sich die Polly wegen der eigenartig grünlichen Farbe.
Sie hatte ein Halma-Spiel aus der Hotellobby mit an den Strand gebracht. Der Paule hat die erste Runde gewonnen, die Cora die zweite und ich nicht mal die dritte. Die Mia schwärmte noch immer von ihrem Auftritt heute Morgen inmitten des Karnevalstrupps. Wenn die Mia ein Thema gewählt hat, das ihr wichtig ist, lässt sie nicht davon ab (wir erinnern uns an ihre beziehungstechnischen Vorträge auf dem Hinflug). Mir hingen schon die Ohren auf die Knöchel, sooft hatte in inzwischen jede einzelne Sekunde dieses denkwürdigen Ereignisses im Sambodrom zu hören bekommen. Wohl dem, der jetzt schlafen durfte, so wie die Amy und der Karlsson. Sie schnarchten friedlich neben uns auf der Decke.

Später bin ich mit dem Paule und dem Pit noch ein bisschen am Strand spazieren gegangen, vorne am Wasser, wo einem die Füße erfrischt wurden. Doch nicht lange, weil die Sonne zu sehr brannte und der Pit zurück wollte zu seiner Provianttüte und seinem kalten Steak-Imbiss – Copacabana hin oder her.

Bye-bye, Rio
 
Um kurz nach sechs Uhr abends, als es bereits wieder dunkel geworden war, standen wir in der Flughafenhalle, bereit zum Abflug. Die Amy und der Karlsson waren jetzt wach und ansprechbar. Die Mädels mussten um ihr Handgepäck feilschen, da sie jetzt ihre Samba-Ausrüstung dabei hatten, die sie gern mit nach Hause nehmen wollten. Nur die Polly hatte ihren Fächer und ihr Flügelpaar im Hotel in den Papierkorb gestopft, also nehme ich an, dass sie keinen Wert darauf legte. Dann ging es retour, die knapp 18 Stunden über den Atlantik und mit Zwischenstopp in Paris, bis wir in Hamburg landeten. Der Luke empfing uns mit dem kleinen Jack am Ausgang. Ui, das war ja 'ne nette Idee. Der Lütte stand kerzengerade mit erhobenem Kopf, so dass seine Very-important-Mitarbeiter-Plakette gut zu sehen war. Die Mia und die Cora sind unserm Gönner gleich um den Hals gefallen: Wie toll alles gewesen sei, haben sie geschwärmt, einmalig, phantastisch, großartig!

„Und? Mialein?“, hat der Luke gefragt. „Denkst du noch an den Harald?“
„Ach, woher denn!“, hat sie eine wegwerfende Bewegung gemacht. „Ich war jetzt Samba-Königin beim Karneval in Rio. Das muss ich dir unbedingt erzählen.“
Dabei hat sie ihn untergehakt und schnatternd weggeführt. 
 
Hihihi, schön blöd. Was fragte der Kerl auch so leichtsinnig? Jetzt war er es, der das Problem am Hals hatte. Selbst schuld. Ich klatschte mich heimlich mit dem Pit, dem Karlsson und dem Paule ab. Für die nächsten Tage würden wir Ruhe haben, wir waren noch einmal davongekommen.


Fotos: 

Cora und Paule: © G. H.
Pferde, Pit, Luke, Amy, Jack: © Club der glücklichen Vierbeiner
Karlsson und Polly: © Terrierhausen
 
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Sambodrom: David Kirsch/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Straßenbahn: Rodrigo Soldon/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Kathedrale von außen: Cyro A. Silva/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Karneval hellblau: Carnaval.com Studios/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Karneval gelb/grün/orange: Luiz Fernando Reis/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Porta-bandeira: Carnaval.com Studios/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Karneval Frauen blau: Carnaval.com Studios/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Sambodrom Gruppe: David Kirsch/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Rio bei Nacht: Stanislav Sedov/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
Rio mit Christus und Zuckerhut: Edson Francisco Bonfim/Flickr, Bild steht unter Creative Commons License
 
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