Am nächsten Morgen kriegte ich einen nassen Waschlappen ins Gesicht. Am andern Ende war die Cora. Sie tat flöten:
„Na, Dickerli? Wohin fahren wir heute?“
Wahrscheinlich dachte sie, die K.o-Tropfen in der Disco gestern hätten mir Totalausfall bereitet, aber selbstverständlich wusste ich jederzeit über sämtliche Logistik Auskunft zu geben.
„Wir machen Kulturprogramm“, habe ich geantwortet. „Wir fahren eine Destillerie besichtigen – Whisky.“
„Oh, schick.“
Die Cora tat in die Flügel klatschen.
„Ohne Verkostung!“, habe ich klargestellt.
Der Grunzer gab zu bedenken, ob es so was überhaupt in England gäbe, er täte Whisky nur aus Irland oder aus Schottland kennen.
„Wir fahren ja auch nach Schottland“, habe ich gesagt. „Genauer gesagt nach Loch Lomond. Das ist ein Gewässer nördlich von Glasgow.
In Schottland heißen viele Seen Loch. Das ist deren Ausdruck für See. Man spricht es sogar aus, wie wir es tun, so wie „doch“, nur eben mit L am Anfang.
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Reizende schottische Löcher |
Den Loch Lomond kenne ich von Tim und Struppi. Dort kann man lesen, dass der alte Seebär Captain Haddock gern den Whisky gleichen Namens trinkt, und manchmal schlabbert sogar der Hund ein Glas leer, falls er es zu fassen kriegt, wofür er dann von seinem Herrchen 'nen Arschvoll kassiert. Mich tat dieses geheimnisvolle Gebräu schon immer interessieren, allerdings hat die Whisky-Marke, die es dort mittlerweile tatsächlich gibt, nichts mit dem Loch Lomond bei Tim und Struppi zu tun, denn die Zeichnungen und Geschichten gab es schon viel früher als die Firma, die heute unter diesem Namen ihren Whisky vertreibt.
Mir war auch gar nicht speziell daran gelegen, diese eine Destillerie zu besuchen, ich wollte nur generell mal gucken, wie es da so zugeht, und der Loch Lomond gefiel mir auf den Bildern im Reiseprospekt. Schön grün und ohne Sandstrand. Dort würden wir nicht Gefahr laufen, über ausgelegte Sonnenölmenschen steigen zu müssen (wie in Blackpool) oder zeit-, energie- und weiberfressende Shoppingmeilen zu absolvieren (wie in Liverpool).
Dem Harald war das ein breites Grinsen wert. Der freute sich auf ausgiebigen Süßwassersport. Mit fuchtelndem Stockschirm ist er vor uns hergewatschelt.
„Hey, hier lang! Links, du Fanfarendirigent“, hat der Pit ihm nachgerufen, als wir am Bahnhof angekommen waren.
Die Fahrt nach Glasgow dauerte etwas mehr als drei Stunden. Landschaftlich ist die Aussicht dort sehr einfach gehalten. Reizvoll, aber aufs Notwendigste beschränkt. Es gab das zu sehen, was Großbritannien am besten kann: grüne Hügel, ehrlichen Himmel, weiße Wolken. Damit hatte man schon in Wales gute Erfahrungen gemacht. Jetzt in der Grafschaft Cumbria, die wir durchfuhren, baute man auf ähnliches Konzept. Wir lagen gemütlich im Polster und guckten in die Ferne.
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Landschaft in Cumbria, Passanten |
Der Mia klebten weiße Tupfer am Schnabel. Das war After Eight. Es dauerte nicht lange und jeder raschelte in den leeren Tüten herum auf der Suche nach dem letzten versteckten Täfelchen. Nur der Pit hatte anderes zu tun. Er hielt 'ne Mettwurst in der Pfote wie andere Leute 'n Strauß Blumen.
Aaaah, aber dem Harald geriet die Nase ins Kräuseln. Sehr schön. Sein Gefieder tat plötzlich irgendwie – wie soll ich sagen? – aufwolken. Es wurde flauschig, besonders obenherum, und gleichzeitig bräunlich, erst nur leicht an einigen Stellen, dann großflächig überall. Eigentlich sah er total dreckig aus. Der Schnabel war auch wieder nachgedunkelt. Die Mia kriegte Glubschaugen:
„Geht's dir nicht gut, Liebster?“
Der Grunzer hat geglotzt wie 'n Insektenforscher, der 'ne Polka tanzende Schildlaus beobachtet; die Cora kramte in ihrem Rucksack nach einer passenden Tablette:
„Würde Rapidolax helfen?“
Und der Ringelplüsch tat seelenruhig weiter seine Mettwurst mampfen. Wunderbar. Ich hatte schon befürchtet, in Conwy wäre die Kühlkette abgerissen, so lange, wie der Harald und der Pit keine intime Nähe hatten leben dürfen. Aber jetzt schien alles wieder in Ordnung zu sein. Der Harald passte jetzt auch farblich und im Muster viel besser zum Ringelplüsch.
„Wie eineiigen Zwillinge“, habe ich geseufzt.
In Glasgow sind wir direkt an den Schalter gegangen. Die Stadt haben wir uns gar nicht erst angeschaut. Mit dem Bus ging's weiter. Das Pensionszimmer konnte gleich am Schalter mit reserviert werden und auch die Führung durch die Whiskybrennerei am Nachmittag.
Hach, was war das für ein prachtvolles Lüftchen, als wir dann am Hügel standen und auf das spiegelglatte Wasser hinabschauten. So sieht also ein schottisches Loch aus, live und in natura. Ich tat meine Luftsäcke tief mit Ruhe und Sauerstoff füllen. Ruhe deshalb, weil die Mia mit dem Harald in der Pension geblieben war, um ihn ordentlich in der Dusche abzuschrubben in der Hoffnung auf Rückerhalt weißer Farbe. Der konnte jetzt also nicht blödsinnig johlend ins Wasser rennen und mir den schönen Anblick verhunzen. Der Pit war in den Garten sein Schnarchkissen ausbürsten gegangen und die Cora war ihn begleiten. Genau genommen tat ich jetzt mit dem Grunzer allein auf dem Hügel stehen.
„Wollen wir ein bisschen im Wald spazieren gehen?“, hat er gefragt.
Warum nicht? Solange ich keinen Löwenzahn suchen müsste oder von erzürnten Ameisen ein Bein gestellt kriegte, könnte ich mich endlich mal ungestört beim Frankensepp über den Stand meiner Matchboxgarage informieren. Der persönliche Kontakt mit entsprechend zart gewählten Fragen kann da oft Wunder wirken, viel mehr als simples Drohen und fachgerechtes Nörgeln.
Das erste Stück sind wir geflogen, dann, als wir mitten im Mischwald waren, der den Loch Lomond an etlichen Stellen berührt, ging's zu Fuß weiter. Es war schattig kühl und ab und zu knackten Zweige unter den Füßen. Wenn ich allerdings gewusst hätte, dass man uns belogen hat im Reiseprospekt mit dem scheinheiligen Gesülze von Frieden, Ausspannen und lieblicher Vegetation, wäre ich natürlich zu Hause geblieben. In Wahrheit nämlich tat dort die brutalste Kriminalität wüten, jawohl!
Das glaubt mir ja keiner, wenn ich das erzähle. Die andern haben's ja auch nicht geglaubt, als wir später davon berichtet haben. Aber alles ist wahr – ich schwöre!
Ich hatte mich gerade zum Grunzer gewandt mit einer Bemerkung über den Zusammenhang von Geldnot und Faulheit, da machte es „Zäng“ und etwas Längliches blieb neben uns in der Baumrinde stecken. Beim näheren Hinsehen zeigte sich, dass es ein Pfeil war. Gleich darauf kriegten die Büsche hinter uns ungewohntes Geräusch, die Zweige wurden auseinander gebogen, ein Jüngelchen mit grünem Hütchen kam zum Vorschein und bellte uns an:
„Wanderer! Alles, was ihr habt, her zu mir! All euren Besitz!“
Ich dachte, ich hör nicht richtig. Was hatte das Milchbübchen hier Karneval zu machen? Das Kostüm war genauso grün wie wir, nur im Farbton etwas lodenartiger, mehr aufs Waldleben zugeschnitten. Eine Strumpfhose gehörte dazu, weiche, knöchelhohe Wildlederstiefel und ein Köcher mit rot befederten Pfeilen darin. Irgendwie kam der Typ mir bekannt vor.
„Kennen wir uns?“, habe ich deshalb gefragt.
„Nö, nicht dass ich wüsste – Geld her!“
Da dämmerte es mir endlich:
„Sag mal, Burschi, gehörst du nicht ganz woandershin?“
„Ja, nach Nottingham. Ich bin hier im Urlaub.“
„Und da kannste nicht mal entspannen? Nimmst deine Arbeit mit?“
„Na ja, man muss in Übung bleiben. In unserm Job verliert man schnell den Anschluss bei der rasanten technischen Entwicklung heutzutage.“
„Ja? Wir haben aber nichts dabei. Oder siehst du was an uns? Wir sind nackt.“
Da ist der Waldknabe einmal um uns herumgeschlichen. Erst hat er geguckt, dann hat er die Achseln gezuckt, dann hieß es „Schönen Tag noch“ und weg war, im Gebüsch verschwunden, genauso schnell, wie er gekommen war. Nur der Grunzer tat noch immer säulenartig dastehen, die Flügel lächerlich in die Höhe gereckt. Dem hatte es die Spucke verschlagen. Gut, dass wenigstens ich Stahlnerven besitze. Hätte ich nämlich die Flügel hochgerissen, hätte der Räuber die Kreditkarte gesehen, die ich dort am Gummiband dabei hatte, und das wäre ja nicht nötig gewesen trotz allem Verständnis für die Arbeitsplatznöte der britischen Jugend.
Auf dem Rückflug hat der Grunzer gemeint:
„Irgendwie hatte ich ihn mir älter vorgestellt.“
„So? Wen denn?“
„Na, den Dschingis Khan von eben.“
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Unsere Pension. Außen ländlich ... |
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... innen erstaunlich geräumig |
Als wir an der Pension ankamen, taten die andern schon auf der Bank sitzen.
„Wo bleibt ihr denn so lange? Der Bus fährt gleich.“
Die Mia sah sehr sauber aus, der Harald war noch immer schmutzig braun, die Cora tat kichern und der Pit seine Barthaare putzen.
Eins muss ich aber mal energisch anmerken: Über den sehr lehrreichen Vortrag in der Whiskybrennerei hatte ich mir extra Notizen beiseite gelegt. Ihr wisst schon, Angaben über Temperatur, Luftdruck, Lagerzeiten und Produktionskapazität. Alles Dinge, die ich euch liebend gern hier mitteilen täte, nur leider ist mir jegliche Lust vergangen. Bedankt euch bei den Spacken, dass ihr jetzt auf diese total interessanten Informationen verzichten müsst. Boah, was war das 'ne scheinheilige Bagage – und ich sag noch: keine Verkostung.
Erst sind alle noch brav mit durch die Keller gelatscht, um jeden Kessel herum und um jedes Fass. Aber dann war ich nur mal kurz draußen, weil ich gehört hatte, dass manche Whiskyfirmen Gänse halten statt Wachhunde, und da hatte ich mal gucken wollen, ob das dort auch so wäre. Hinterm Haus habe ich tatsächlich ein paar Damen getroffen und sehr anregende Gespräche geführt über Arbeitszeiten, Verpflegung, gewerkschaftliche Anbindung und so weiter. Als ich zurückkam, war es bereits geschehen: Man reichte Henkelgläser herum, an denen begierig genuckelt wurde, einschließlich dem Grunzer. Das Ende war das hier:
Auf dem Rückweg im Bus wurde es noch schlimmer. Puppenlustig ist wohl die passende Beschreibung. Zum Schluss hat der Pit seine Mettwurst rumgehen lassen und jeder hat mal abgebissen, sogar der Grunzer und der Busfahrer.
Was war ich froh, als ich den kichernden Fuselhaufen hinter der Pensionstür hatte. Wie ein Schneepflug haben der Harald und ich alles vor uns hergetrieben, was offiziell zu uns gehörte. Bis ins Bad. Tür von außen zu. Ausnüchterungszelle. Aus die Maus. Man muss auch mal hart durchgreifen. Die nächsten zwei Stunden war Ruhe. Dann artiges Klopfen:
„Gibt's was zu essen?“
Ich habe den Tisch vorsichtshalber auf dem Zimmer decken lassen, solange ich nicht sicher sein konnte, dass nicht einer der Delinquenten im Speisesaal den Kronleuchter entern würde, um „God save the king“ zu schmettern. Meine Wahl fiel auf vegetarisch: überbackene Zucchini. Wem das nicht gefallen täte, der könnte sich ja die Mettwurst vom Pit reinschnibbeln.
Erst viel später, als es schon zu dämmern begann, sind wir alle zusammen noch mal rausgegangen. Es war still und friedlich um den See und wunderbar blau. Wir hatten drei Mayonnaise-Eimer aus der Küche mitgenommen, damit wir darauf sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen konnten. Wir haben nicht viel geredet, jeder war mit sich beschäftigt. Der Harald zog lautlos seine Kreise.
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Der Loch Lomond |
Mir tat das gut gefallen, weil es doch ein versöhnlicher Schlussstrich war unter die haarsträubenden Ereignisse: erst der Überfall, dann das Besäufnis im Whiskykeller und gerade eben die Entziehungskur. Was sollte jetzt noch Schlimmeres passieren? Hier am paradiesischen Gewässer in den letzten idyllischen Farben des sich verabschiedenden Tages?
Tja. Was sollte jetzt noch passieren? Da war selbst ich sprachlos.
Aber davon berichte ich euch das nächste Mal.
Fotos: Cora © G.H.
Grunzer © U.W.
Pit © Club der glücklichen Vierbeiner
Loch 2, Loch 3, Holzhaus, Schwan 1, Glas mit Whisky, Fässer 1, Fässer 2, Hotel innen, Gänse, Loch Lomonmd,
Cumbria, Landkarte: Pixabay
Loch 1, Zucchini: Morguefile
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