Montag, 4. Januar 2021

Cucumis sativus, die gemeine Salatgurke

Ja. Sommerurlaub in diesem Jahr. War ja nicht einfach wegen des Ansteckens. Aber was habe ich geschwitzt! Auch der Pit hat gejammert, er sei so down, er müsse unbedingt mal raus, sein Geschäftsführerposten bringe ihn an den Rand des Zusammenbruchs.

Schade. Insgeheim hatte ich gehofft, dass wir uns alle bei ihm einquartieren. Er wohnt doch so idyllisch auf dem Lande zwischen Pferdeweiden und Rapsfeldern. Ich sah uns schon am Wasserbassin sitzen mit einem fruchtigen Drink vom Jack serviert, die Amy manikürt mir die Krallen, während Marina, Lütti, Spooky und Abbatini uns abwechselnd mit ihren Schwänzen Luft zuwedeln und der Luke regelmäßig vorbeischaut, um zu prüfen, ob der Sonnenschirm noch perfekt steht oder verrückt werden muss. 

Schleswig-Holstein: schön leer und übersichtlich


Na, dann würde das ja wohl nichts werden. Aber wir hatten ja noch ein Ass im Ärmel: den Karlsson mit seinem Gut von Oe, schleswig-holsteinisches Apfelbaumparadies mit überbordender Willkommenskultur – oder ?
„Ins Herrenzimmer latscht ihr mir aber nicht!“, hat der Gutsherr sofort klargestellt. „Ihr könnt im Geräteschuppen schlafen, meine Mama ist allergisch gegen Vogelfedern.“

Also blieb nur noch Duisburg oder Hannover bei Cora daheim oder bei uns. Doch wer will schon in der Stadt bleiben und dem Asphalt beim Schmelzen zuschauen? Nun wurde es eng, denn Geld zum Verreisen besaßen wir nicht. Wir mussten etwas Nahes und Kostenloses finden. Vielleicht hätte ich stutzig werden sollen, als ausgerechnet der Roosevelt und der Otis (ja, es gibt sie noch) mit ihrem Vorschlag kamen, aber ich muss zugeben: Erst mal klang alles sehr verlockend. Außerdem sollte man grundsätzlich an das Gute in der Fledermaus denken. Es hieß, wir könnten doch zu Roosevelts Schwester Caroline in den Harz fahren. Sie unterhält dort bekanntlich eine Ökogurkenfarm.

Ja, warum nicht? Im Harz ist der Karlsson schon mal mit der Polly gewesen. Sie haben dort ihre Leute ausgeführt. Von dem, was sie erzählen – prima Wälder, Ruhe, Freiheit, Natur –, war anzunehmen, dass es auch uns andern gefallen würde. Man muss ja nicht immer ins Schickimicki-Bad reisen oder Metropolen besichtigen. Dem hat mir irgendwann sogar die Mia zugestimmt. Sie glotze finster vor sich hin.
„Deinen Glitzer-Bikini kannst du auch vorm Fuchsbau tragen“, habe ich sie getröstet.
Wollte sie nicht überhaupt einen Adler kennenlernen, jetzt wo sie wieder Single ist? Das war doch die Gelegenheit. Im Harz gibt es haufenweise Adler, Falken, Bussarde und so 'n Angeberpack. Darunter könnte sie sich ja ausgiebig umschauen und wäre nebenbei sinnvoll beschäftigt.

Die Matschfalter selbst verbringen jeden Sommer in den Karpaten bei ihrem Onkel Theophil. Der arbeitet dort für einen Grafen, der in einer alten Burg residiert; wie es mir vorkommt, seit Jahrhunderten. Vor vielen Jahren sind wir mal mitgefahren. Damals hatte die Cora eine Kontaktanzeige in die Wand einer Ruine gekratzt. „Liebster, melde dich!“ oder so ähnlich steht dort vermutlich noch immer, aber bis heute hat keiner darauf reagiert. Ist vielleicht auch gut so, denn wir sind nie so richtig warm geworden mit den Verhältnissen dort. Ich meine, die Landschaft ist sensationell, aber überall der Knoblauch an den Fenstern und Türen, das fand ich nicht so schick, und nachts dann Remmidemmi im Schloss, während wir schlafen wollten. Tagsüber ließ sich niemand blicken, natürlich auch nicht der Roosevelt und der Otis. Wir waren auf uns allein gestellt, und so mitten in der Pampa auf einem Hügel, nur mit Wald umgeben, ist es doch ziemlich langweilig geworden. 

Karpaten? Nee, das ist im Harz

Ich weiß gar nicht mehr, sind wir damals nach Rumänien geflogen oder mit dem Wagen gefahren? Die Matschfalter jedenfalls nehmen jeden Sommer das Flugzeug. Sie quetschen sich am Gepäckwaren auf dem Rollfeld heimlich in eine Seitentasche von irgendeinem Rucksack und fliegen als blinde Passagiere im Rumpf mit. Weil sie ohnehin tagsüber schlafen, funktioniert das gut, sofern sie einen Nachtflug nehmen. Auf diese Weise erfüllen sie auch die Abstandsregeln, denn bisher sind sie nach eigener Aussage noch keinem andern Fluggast begegnet.

„Bauernhof?“, hat der Karlsson gefragt.
„Nein, es ist eine Gurkenplantage.“
„Mit andern Worten: der grüne Overkill, nicht wahr?“
Dass er sich dort oben im Harz wohl kaum als radikaler Gurkenbefreier gebärden würde, fand ich, ehrlich gesagt, sehr angenehm. Man muss auch mal abschalten können, selbst von seiner Weltanschauung. 

Die Mia und die Cora haben sich Wanderhüte zugelegt. Das mache man so, wenn's in die Sommerfrische geht, haben sie behauptet. Coras Hut war mit Krempe in Lodengrün und Mias Hut ein Baseballcap mit stylischen Fransen am Schirm und aufgenähten Strasssternchen.
„Sehr schön“, habe ich gesagt. „Damit morsen wir dann Hilferufe ans Suchflugzeug, wenn du mit der Birne gegen einen Baum gelaufen bist und ohnmächtig im Unterholz liegst. Im Sonnenschein leuchtet deine Diskokappe bestimmt bis Prag.“

Vom Pit kam die Frage, ob er Mettwürste mitbringen müsse, oder ob die dort oben von allein über eine anständige Verpflegung verfügten. Tja, ich kannte Caroline und ihren Mann bisher nicht persönlich, bin aber davon ausgegangen, dass sie als Fledermäuse ein ordentliches Fleischgericht sehr zu schätzen wüssten.
„Lass mal stecken“, habe ich daher geraten. „Wohin wir fahren, ist Niedersachsen, nicht die Sahelzone.“
Das nimmt mir der Pit bis heute übel.

Dann ging es an die Koordinierung der Anfahrten. Der Otis hatte uns bereits telefonisch bei „Eco-Pep“ angemeldet. So heißt die Gurkenfarm. „Pep“ steht für Pepino, also für Gurke, und „Eco“, was das bedeutet, ist ja wohl klar. Wir sollten eine Woche bleiben. Da wir die Abstandsregeln ernst nehmen und nicht wussten, ob uns heutzutage noch jemand mitnähme, wenn wir uns mit dem Daumen an die Autobahnauffahrt stellten, habe ich bei Puten-Manni vorsorglich nachgefragt, ob jemand seiner Kollegen uns einzeln aufnehmen und nach Braunlage mitnehmen könne. Das wurde nach längerem Hin und Her bestätigt. So reiste jeder für sich allein an. Dank Gemüse-Günther, Edeka-Erich, Schollen-Dieter, Lumpen-Lothar und wie sie alle hießen, kamen wir alle gut am verabredeten Parkplatz an. Nach und nach kletterten der Pit, die Cora und der Karlsson von ihren Beifahrersitzen. Nur die Mia und ich waren natürlich zu zweit gekommen.

Die Weiber rannten übers Pflaster und fielen sich kreischend in die Flügel, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Der Karlsson nickte mir nur weltmännisch zu, während der Pit unter seinem Mundschutz Grimassen schnitt.
„Ist dir die Nase eingeschlafen?“, habe ich mich erkundigt.
„Nnn, gleeee ....“
„Was?“
„Sein Brot mit Zuckerrübensaft klebt ihm in Gesicht“, hat der Karlsson übersetzt.
Im Ernst? Der Kerl schob sich das Natur-Uhu in den Mund und klappte dann zum Kauen seine Maske drüber? Ich konnte es nicht glauben, aber als der Pit sich oben herum freimachte, konnte ich deutlich die dunkel glänzenden Kügelchen sehen, die sich überall in seinen Barthaaren breitmachten wie winzige Christbaumkugeln am Tannenzweig.


Vor unserm Parkplatz: Stadt sieht anders aus

Apropos Tannen. Waren wir nicht im Harz und sollte es hier nicht wimmeln vor Nadelholz? Ich schaute mich um. Tatsächlich, wir waren umringt von Fichten. Oder waren das Kiefern? Manches hatten wir bereits vom LKW-Fenster aus bewundert. Die Luft war frisch, irgendwie rein. Ich atmete tief durch. Kein Wunder, wir waren auf einer Höhe von 620 Metern. Das sind etwa 570 Meter mehr als in Hannover und etwa 590 mehr als in der Heimat vom Pit und vom Karlsson und in Duisburg, der Heimat der Cora. Hoffentlich würde unser Höhenschisser nicht wieder Ohnmachtsanfälle kriegen wie damals in der Seilbahn in Rio.

„Keine Bange“, hat mich der Karlsson angestiert. „Das gilt nur für Gebäude, in der Natur bin ich stark wie 'n Bär, besonders mental.“
Zur Demonstration knallte er einmal kräftig mit dem Fußballen gegen einen Abfalleimer, dass es nur so schepperte. Dann gab gaaaanz langsam der Boden nach, die Klappe öffnete sich und Sunkist-Tüten, Kekspackungen und leere Cola-Dosen rauschten mit Aplomb auf den Grünstreifen des Parkplatzes.

Wir drehten uns um und schoben die Mädels und den Pit unauffällig in eine andere Richtung. Gott sei Dank stand dort hinten der Transporter, der uns abholte. Wie angekündigt war er rot mit grünen aufgemalten Gurken auf der Seite. Sie grinsten fröhlich und hielten sich behaglich den Bauch. Oh, hier war ein Meister des Marketings am Werk gewesen. Da fühlte man sofort gesundes Sprudeln die Blutbahnen entlangsausen. Die Fahrerin trug eine hellblaue Latzhose und ein hinten verknotetes Kopftuch über dem Haar. Prima, sie war schon mal keine Fledermaus, sondern ein normaler Mensch. Das beruhigte mich sehr. Wir setzten wieder die Masken auf und stiegen ein. Hinter uns im Laderaum standen Unmengen leerer gestapelter Holzkisten, sicher zum Transport der Gurken gedacht. Irgendwie roch es sogar gurkig in dem Wagen, so süßlich-spritzig wie frisch angerichteter Gurkensalat, nur ohne Dill.
„Will jemand 'n Stück Zimtschnecke“, hat der Pit in die Reihe gefragt.
Ja, gern. Aber dann fiel mir ein, dass ich den Mundschutz über dem Schnabel trug. Auch die Mädels unterhielten sich angeregt über das kleine Stück Stoff. Wie konnte es anders sein – die Maske der Mia war mit gelben und türkisfarbenen Pailletten bestickt. Coras Maske trug die Aufschrift „Rasseweib“ und die vom Karlsson war aus weißem Doppelripp, also in der Modefarbe Nude, sofern man das passende Fell dazu vorwies. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand … Nee, das macht doch keiner, oder doch?

Links Braunlage, in der Mitte Gebirge, vorne waagerechtes Land

Wie gesagt, die Ökogurkenfarm befindet sich in der Nähe von Braunlage. Wir fuhren aus der Stadt heraus. Um uns herum waren nur Bäume, Wiesen und Felder zu sehen, so weit das Auge reichte. Die Sonne färbte alles grell ein. Wir kamen an einem modernen Gehöft an. Die Hausherrin und ihr Mann seien im Augenblick leider nicht verfügbar, hieß es. Sie ließen sich bis zum Abend entschuldigen, wir sollten es uns schon mal gemütlich machen, das Haus stehe uns offen. Na, das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Nachdem wir das Gepäck in unserm netten, aber einfachen Gastzimmer abgestellt hatten, trafen wir uns vor dem Haus zu einem ersten Gang über das Gelände. Die Cora und die Mia hatten ihre Wanderhüte aufgesetzt.

„Ui, Witwe Bolte und Barbie auf Betriebsausflug“, hat der Karlsson mir zugeraunt.
Ich hätte mich fast nicht mehr einkriegen können, so sehr musste ich lachen.
Die Mia guckte streng zu uns herüber, nur der Pit zeigte sich gänzlich unbeeindruckt, vermutlich weil er Kummer gewöhnt ist von den vielen Weibern in seinem Clan und seine Humorschwelle diesbezüglich daher so hoch ist, dass sie selten erreicht wird. Außerdem war er vorausgegangen. Die Tür führte in ein Gewächshaus, wie wir kurz darauf feststellten.

Die Neugeborenenstation

Aha, so sieht also die Kinderstube einer Ökogurkenfarm aus: lange Spaliere aus Pflanzkästen mit mittelhohem sehr unordentlichem Gestunke, an denen kleine pickelige Würste hingen. Unter der Decke waren winzige Duschköpfe angebracht, vermutlich für den täglichen Schönheitsnebel.

„Die sehen aber ganz anders aus als die Salatgurken, die wir essen“, hat die Cora bemerkt.
„Hm, vielleicht werden sie als Hornhauthobel verkauft, nur eben nicht aus Plastik, sondern als öko“, hat die Mia zu Bedenken gegeben.
„Quatsch, das sind Gewürzgurken fürs Glas, nur noch ohne Verpackung.“
Jo, damit dürfte der Karlsson recht haben. Im Wasser weichen die Pickel dann auf, so dass die Oberfläche zum Reinbeißen schön glatt wird. Das ist Chemie, Leute. Alles ganz logisch.

In einem andern Gewächshaus hingen sehr stachelige Kugeln an den Zweigen.
„Sind das Kastanien?“, hat sich die Cora gewundert.
Wie ein Baum sahen die Strunke, an denen sie hingen, eigentlich nicht aus. Mich interessierte eher, wie man die Dinger essen sollte, wenn sie eine so wehrhafte Schale trugen. Der Pit probierte mal vorsichtig mit der Pfote.
„Es geht“, lautete sein Urteil. „Zum Runterschlucken aber zu sperrig.“

Was es nicht alles gibt: Gurken-Raffaellos

Komisch, dass wir niemanden sahen, der hier arbeitete und den wir hätten fragen können. Aber vielleicht wuchsen die Gurken von ganz allein und man brauchte nur Leute zum Ernten und für den Transport.


Wir setzten uns vorm Haus auf die Bank. Die Sonne schien noch immer kräftig, nur nicht mehr ganz so grell wie am Mittag. In der Ferne hörten wir hin und wieder Stoff gegen einen festen Untergrund flappen, vermutlich die Flagge mit dem Firmenemblem (zwei gekreuzte Gurken vor Einweckglas), die wir bei der Ankunft von der Straße aus gesehen hatten, sonst war alles still. Wir begannen uns langsam Sorgen zu machen. Waren wir hier tatsächlich allein auf dem Hof? Mich beschlich eine gruselige Vorstellung: Die ganze Farm wurde von einem Heer von Fledermäusen regiert, das bei Nacht ausschwärmte, um die Welt zu unterjochen.
„Du siehst zu viel Science Fiction“, hat der Pit den Kopf geschüttelt.
Er futterte Salzbrezeln.
Na, das war ja köstlich. Wer von uns beiden lebte denn in ständigem Haushalt mit dem Roosevelt und dem Otis und kannte daher die infamen, geheimsten Wünsche? Er oder ich?
„Das fragt ausgerechnet der Master of the Universe? Der Geldeintreiber bei den Dachtauben und die Geißel der beiden netten, harmlosen Fledermäuse, die sich ja wohl nicht selbst in der Nachttischschublade einsperren und sich zu Heiligabend in den Blumentopf einbuddeln?“
Die Cora schüttelte noch empörter den Kopf als der Pit.
Und dann setzte noch der Karlsson an: Wenn das so sei, wenn eine Bedrohung vorliege, dann seien wir selbstverständlich aufgerufen, sofort eine radikale Befreiung zu organisieren.
„Ach, und wen sollen wir befreien?“, hat die Mia gerade noch fragen können. „Die Fledermäuse oder die Gurken?“
Dann fuhr ein Transporter auf den Hof und beendete die Diskussion. Es war Anna, die Frau in der hellblauen Latzhose, die uns abgeholt hatte. Sie fungierte hier als eine Art Geschäftsführerin, zumindest tagsüber. Der Pit richtete sich kerzengerade auf und kickte schnell die Tüte mit den Salzbrezeln unter die Bank. Beim Wort „Geschäftsführer“ kamen ihm offenbar Parallelen zu seinem Schnarchjob in Lukes Totmacher-Business. So was mobilisiert bei gewissen Leuten emotionale Verbundenheit.

Anna zeigte uns winzige ovale Gurken. Sie stammen ursprünglich aus Mexiko, waren aber nicht die mit den Stacheln, die wir vorhin am Strauch besichtigt hatten. Ja, das seien sogenannte Igelgurken, wurde uns bestätigt. Die sind nicht essbar. Sie werden lediglich zur Zierde gehalten. Hier bei Eco-Pep verkaufe man sie vor allem an Blumenläden.

Die kann man essen - muss man aber nicht

Dazu erfuhren wir, dass man auf der Farm natürlich auch herkömmliche Salatgurken anbaue. Das Feld sei weiter draußen. Wir würden es morgen früh zu sehen bekommen bei der Einweisung.
„Wir sind ein reiner Familienbetrieb. Wir beliefern die Bioläden in der Umgebung. Außer mir sind Frau Caroline und Herr Werner da, die Haushälterin Frau Meier, zwei 460-Euro-Jobber für die Fahrten und einige Saisonkräfte, die uns bei der Ernte oder beim Verpacken helfen.“
Puh, mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Cora guckte mich triumphierend an.

Da es Zeit zum Abendessen wurde, gingen wir rein. In der großen Wohnküche wartete schon der gedeckte Tisch auf uns. Frau Meier (keine Fledermaus!) hatte jedem einen Teller mit einem einfachen bunten Salat angerichtet. Sah toll aus, verursachte beim Karlsson allerdings leichtes Nervenzucken. Man musste ihn schon länger kennen, um die kaum merklichen Bewegungen um seinen Mund richtig deuten zu können.

Unser erstes Abendessen

„Ist bestimmt nur die Vorspeise“, habe ich ihn leise getröstet.
„Gut, dann warte ich auf den Rest“, hat er geantwortet.
„Hat's nicht geschmeckt?“, hat Frau Meier gefragt, als sie den vollen Teller abräumte.
„Doch, aber ich habe heute ein bisschen Durchfall.“
„Na, dann solltest du die Himbeergrütze mit Vanillesoße besser nicht essen.“

Zack, standen die beiden Schüsseln auf dem Tisch und vier (!) Kompottschälchen gleich dazu. Nix mit Fleisch und Hauptgericht. Vielleicht hätte es der Karlsson machen sollen wie der Pit, der zwar auch Fleischesser ist, aber grundsätzlich erst mal alles mitnimmt, was sich bietet. Hinterher kann man notfalls immer noch mit Keksen stopfen.
Überhaupt, das war die Lösung:
„Pit, du hast doch sicher noch Kekse oder so was im Gepäck, nicht?“, hat der Karlsson gefragt.
Seine Stimme klang hoffnungsvoll.
„Nee, leider nicht, alles weg. Tut mir leid.“
Jetzt war die Vibration in Karlssons Bart selbst für Laien sichtbar. Zwar hat ihm jeder von uns etwas abgegeben von seinem Nachtisch, sobald Frau Meier aus der Tür gegangen war, doch so 'ne Fruchtgrütze rauscht ja beim Hund ohne Zwischenhalt durch den Magen, ohne dass sich unterwegs auch nur eine Kalorie festklammern könnte. Der Karlsson tat mir jetzt richtig leid.

Nach dem Abendessen sind die Mädels durchs Haus gelaufen auf der Suche nach dem Aufenthaltsraum mit dem Fernsehapparat. Es gab keinen, weder das eine noch das andere. Sie konnten lediglich über eine kleine Bibliothek berichten mit Büchern über alternativen Landbau, natürliche Unkrautvernichtung und faire Vermarktung. Das wäre was für die Polly gewesen; sie las doch jeden Artikel, sobald „biologisch“ draufstand. Das Büro war abgeschlossen, ebenso der Aufgang zu den Privatgemächern der Hausherren im Obergeschoss. Insgesamt also ein wenig unterhaltsames Ergebnis. Daher haben sich die Cora und die Mia im Schlafzimmer erst mal ausgiebig die Achseln gewachst und die Brauen gezupft, bevor sie sich wieder auf der Bank vorm Haus niederließen.

Wir Jungs hatten unterdessen den kleinen Kräuter- und Obstgarten auf der andern Hausseite entdeckt. Er war hübsch umzäumt mit einem Lattenzaun und einer niedrigen Hecke davor. In den Beeten steckten akkurat beschriftete Schilder vom angedachten Inhalt. Das erwies sich als sehr hilfreich, denn selbst unter größten Hungerkrämpfen wollte sich der Karlsson nur solcher Nahrung widmen, die er kannte. Obwohl alles still um uns herum war und – wie gewohnt – niemand zu sehen war, hatten wir das komische Gefühl, dass wir beobachtet wurden. Wir bewegten uns daher in Zeitlupe voran, begleitet von überschäumenden Ahs und Ohs, die unser wissenschaftliches Interesse demonstrieren sollten, während der Pit und ich uns gelegentlich runterbeugten und dem Karlsson Schilder vorlasen, um seine Entscheidung zu beflügeln. Leider befand sich jedoch vieles unter der Erde, anderes kannten wir nicht, weil es einen lateinischen Namen trug. Wenn der Karlsson mir mit seinem Körper Deckung gab, konnte ich ab und zu ein bisschen im Boden buddeln, hatte am Ende aber nur eine Zwiebel freigelegt und ein längliches Schrumpelding, das der Karlsson auch nicht essen wollte. Wir versuchten es schließlich mit Obst. Kaum war der Pit an den Baumstamm gesprungen, um von oben Birnen runterzuwerfen (besser als nichts), ertönte energisches Klopfen hinter uns. Es kam vom Küchenfenster an der Ecke, und wer da so unmissverständlich „Macht, dass ihr wegkommt, ihr Bengel“ geschrien hatte, das war Frau Meier gewesen, die jetzt das Fenster geöffnet hielt und mit einem großen Messer fuchtelte. Wir machten, dass wir wegkamen. Zurück auf der Bank bei den Mädels konnte ich dem unglücklichen Karlsson wenigstens mit einer zuversichtlichen Prognose dienen:
„Wer ein großes Messer in der Hand hält, der schneidet auch Fleisch damit. Morgen gibt’s bestimmt Braten.“
Der Karlsson nickte trübsinnig. Aus seiner Schnauze sabberte es traurig. 


Frau Meiers Heiligtum: eifersüchtig bewacht

Im Hochsommer wird es bekanntlich spät dunkel. Wir saßen eine gefühlte Ewigkeit auf unserer Bank. Sogar der Mia und der Cora war inzwischen das Schnattern ausgegangen. Jeder träumte in seiner eigenen Gedankenblase vor sich hin. Eigentlich waren wir müde und wären gern schlafen gegangen, aber wir mussten ja noch auf die offizielle Begrüßung von den Hausherren warten. Wenn sie so gestrickt wären wie die Matschfalter zu Hause, dann hieße das, hocken bleiben bis zur vollständigen Dunkelheit.

Doch glücklicherweise kam Bewegung in die Sache, kaum hatten wir die kleine Laterne neben uns angezündet. Aha, die Caroline und ihr Gatte waren wohl Frühaufsteher. Kurz darauf wurden wir freundlich umflattert. Ich musste heimlich sehr grinsen: Die Dame des Hauses sah genauso aus wie der Roosevelt, blau und schlank, nur weiblich-zarter natürlich. Werner, ihr Mann, trug Lederflügel in Oversize und einen dicken dunklen Wollpullover, der sich allerdings bei näherem Hinsehen als Oberkörper entpuppte. Das lange Fell und den dicken Bauch hatte ich irrtümlich für Garderobe gehalten. Am liebsten hätte ich den Karlssen angestoßen, denn dass wir es mit einem korpulenten Firmenbesitzer zu tun hatten, war ein gutes Zeichen für eine nahrhafte Fleischküche. Doch der Karlsson saß zu weit weg und war ohnehin damit beschäftigt, seinen Blick auf den Punkt der Ansprache zu heften. Fledermäuse können ja gut in der Luft manövrieren (übrigens völlig lautlos) und dabei sieht es gelegentlich so aus, als würden sie in der Luft stehen wie Kolibris. Allerdings sind sie winzig und in der Dämmerung nur schlecht zu erkennen.

Caroline und ihr Mann hießen uns herzlich willkommen und wiederholten den Gruß vom Mittag von der Anna, dass wir es uns gemütlich machen sollten. Der Harz sei ein begnadetes Fleckchen Erde, er würde bestimmt auch uns prima gefallen. Wenn wir Fragen hätten, sollten wir uns vertrauensvoll an Anna wenden oder sie selbst ansprechen am Abend. Doch nun wünschten sie uns eine geruhsame Nacht, denn sie hätten noch zu arbeiten. Und schon waren sie wieder weg, die rastlosen Firmeninhaber.

„Mir tränen die Augen“, hat die Cora gemeckert.
„Mir auch. Das popelige Gestarre macht einen ja ganz vogelig“, hat der Karlsson geseufzt.
Vom Pit kam das leise Geständnis, dass er sich hatte sehr zurückhalten müssen, nicht die Pfote auszufahren, um die Flieger aus der Luft zu pflücken. Das Geflatter vor seiner Nase mache ihn nämlich nervös, das könne er nicht ab, Gastgeber hin oder her.

Merkt ihr was? Nur ungeübte Leute haben Mühe, sich auf Matschfalter einzustellen. Wer wie die Mia und ich täglich Umgang damit hat, bleibt ruhig und körperlich unversehrt.

Die Firmenchefin Caroline: na ja, so ähnlich

Wir gingen zu Bett. Schlafen konnte ich aber nur schlecht, weil die Stille so aufdringlich war. Kein Laut war zu hören (außer Karlssons knurrendem Magen). Als es hell wurde, hörte man Schritte auf dem Hof, fernes Reden und Autos wegfahren. Ich drehte mich noch mal um, kurz darauf klopfte es an der Tür. Es war Frau Meier, die „Aufsteeeehn!“ flötete und allen Ernstes verkündete: „6.00 Uhr. Das Frühstück wartet.“

6.00 Uhr? Das sollte wohl 'n Scherz sein. Seit wann wird man als Feriengast geweckt, vor allem wenn die Frühstücksküche international bis mindestens 11.00 Uhr geöffnet hat?
„Wir sind hier aber nicht international, sondern Oberharz, da ticken die Uhren anders. Außerdem habe ich Hunger.“
Alle mal raten, von wem diese Ansage kam. 

Wir quälten uns aus dem Bett. Für Hygiene blieb keine Zeit, selbst der Mia und der Cora nicht. Sie nebelten sich stattdessen einmal ordentlich mit Deo ein. Dann ging es im Gänsemarsch die Flure entlang, angeführt von einem sehr herrschaftlich stolzierenden Karlsson, bis wir die nach Kakao duftende Wohnküche erreichten. Der Tisch sah wieder wundervoll aus, liebevoll gedeckt mit Geschirr in Delfter Blau oder wie das heißt. Ein schneller Blick über die Zutaten verriet das heutige Motto: eindeutig vegetarisch: Schwarzbrot, Honig, Marmelade, Käse, Quark. Karlssons erwartungsfrohe Mine fiel genauso rasch zusammen, wie wir Platz genommen hatten. Immerhin bekam er von der Mia und der Cora ein Brot geschmiert, das es in sich hatte: mit doppelt Butter, vier Scheiben Käse und oben drauf einem Klecks Aprikosenmarmelade.
„Hier! Schmeckt fast genauso gut wie Fleischwurst.“
Der Karlsson guckte wieder trübsinnig. Nur der Hunger trieb's rein. Uns andern schmeckte es ausgezeichnet. Der Pit schmierte sich gleich noch ein Ersatzbrot und wickelte es sich heimlich in die Serviette zum Mitnehmen.
„Karlsson, halt durch bis zum Braten am Mittag“, habe ich alle meine Empathie mobilisiert.
Ich wollte nicht, dass den ganzen Vormittag ein Trauerkloß neben uns herlatschte, schließlich würde sogleich unser aufregendes Urlaubsprogramm beginnen, nun, da wir schon so früh auf den Beinen waren.

Anna führte uns über den Hof. Es ging an den Gewächshäusern vorbei, bis wir alle Gebäude hinter uns gelassen hatten und ein großzügiges Feld mit akkuraten Reihen niedriger grüner Büschel sich vor uns auftat. Anna fragte, ob wir mit Handschuhen arbeiten wollten oder ohne.
Wie … arbeiten?
Na, wir hätten uns doch zur Ernte angemeldet – eine Woche Touristentarif mit Unterkunft und vegetarischer Wellnessverpflegung.
Alles glotze mich finster an, nachdem Anna noch mal weggegangen war, um die Körbe zu holen. Ach, dann hatte ich also gestern doch richtig gehört, als sie davon gesprochen hatte, dass wir das traditionelle Salatgurkenfeld kennenlernen würden bei der Einweisung. Und ich hatte schon gedacht, ich hätte da was missverstanden.
„Hier bleibe ich keine fünf Minuten“, hat die Mia theatralisch ausgerufen. „Bei den Gurken schuften, so weit kommt's noch.“
Der Karlsson und der Pit wollten wissen, was genau mit vegetarischer Wellnessverpfegung gemeint sei. Ich musste mich auf den Roosevelt und den Otis berufen, dass sie uns augenscheinlich gehörig verarscht haben. Nur das hat mir vermutlich das Leben gerettet.

Freifeldgurken: Glückseligkeit bis zum Horizont

Als Anna wieder zurückkehrte mit den Körben für die geernteten Gurken, hatten wir bereits den betrüblichen Schluss gezogen, dass uns nichts anderes übrig bliebe, als uns in die Arbeit zu fügen, weil wir festsaßen. Wir hatten weder Geld für eine Bahnfahrkarte noch ein Handy oder sonstigen Zugang zum Netz, um uns Hilfe zu besorgen, und unsere Rückfahrten in den LKWs waren für nächsten Dienstag verabredet.
„Das ist ja 'n schöner Mist“, hat die Cora die Lage treffend zusammengefasst.
Sie war es allerdings auch, die uns aufbauen wollte mit dem Hinweis, dass wir das Schuften in der Großhandelsbranche schon einmal erfolgreich bewiesen hätten:
„Erinnert ihr euch noch an den Nordpol und den Weihnachtsmann mit seinen Geschenken?“
„Ja“, hat der Karlsson gesagt. „Aber damals gab's Geld dafür und Fleisch zu den Mahlzeiten.“

Schicksalsergeben haben wir Augen und Ohren auf Annas Anweisungen gerichtet. Unsre Aufgaben offenbarten sich als unmissverständlich. Wir Vögel sollten in den Büscheln herumkriechen und die reifen Salatgurken suchen. Wenn wir sie gefunden hätten („Reif sind sie, wenn sie dunkelgrün sind“), sollten wir den Stängel abknipsen und weiter vorrücken. Der Pit und der Karlsson würden folgen, die Gurken aufsammeln und in die Körbe legen.
„Viel Spaß“, hat uns Anna zugerufen. „Zur Frühstückspause kommt jemand vorbei mit den Pausenbroten.“
Dann waren allein.

Am schlimmsten war die Sonne, die herzlos auf uns niederbrannte. Die Mädels hatten vergessen, ihre Wanderhüte mitzunehmen, und wir Jungs hatten ja erst gar keine besessen. Einmal, als ich mich umdrehte, habe ich mich furchtbar erschreckt, weil ich dachte, ein altes Mütterchen stünde hinter mir, doch es war nur der Pit gewesen, der sich seine Maske (die er als verantwortungsbewusster Kater natürlich immer bei sich trug) auf den Kopf gebunden hatte als Sonnenschutz. Im Gurkengestrüpp blieb man ständig hängen mit seinen Krallen, ganz zu schweigen vom glühenden Schnabel vom vielen Abbeißen. Manche Stängel waren hart wie Strunk. Dazu kam die schlechte Laune des Sammelduos, das uns manche Gurke wieder vor den Hintern klatschte, weil die Gurke angeblich noch nicht reif war. Irgendwann hatte ich auch noch Rücken.

Dazu einen Klecks Marmelade: Luxusprogramm pur

Glücklicherweise kam nach einer Ewigkeit endlich Frau Meier mit dem Frühstück vorbei. Es gab Wasser und die versprochenen Brote, leider alle nur mit Marmelade. Egal, wir waren so ausgehungert, dass wir sogar rohen Knoblauch gefuttert hätten, selbst der Karlsson und der Pit. Frau Meier hatte uns eine Uhr mitgebracht, damit wir wüssten, wann unsere Schicht zu Ende sei. Sie hing der Cora um den Hals. Wir erfuhren, dass uns als Mitgliedern des Touristentarifs sechs Stunden Arbeit täglich zustünden. Mittagessen war um 13.00 Uhr, danach frei. Einmal war mir, als hielte ich den Roosevelt in der Hand und drückte genüsslich zu. Dabei tat mir komischerweise die Hand sehr weh. Bald habe ich gemerkt, dass ich mit aller Gewalt eine Gurke drückte.
„Hey, nicht trödeln“, hat mich der Karlsson angemeckert.
Er schob seinen Gurkenkorb wie eine Lore vor sich her. Fast wäre er mir in die Hacken gefahren.

Als wir pünktlich um 13.00 Uhr wieder in der Wohnküche saßen, gab es das hier:



Wir waren so kaputt, dass wir anschließend ins Bett fielen, so, wie wir waren: verschwitzt mit dreckigen Füßen. Bis zum Abendessen haben wir durchgeschlafen. Dann wurde uns das hier serviert:

 

Der Einfachheit halber verzichte ich künftig auf jede weitere bildliche Darstellung unseres Speiseplans. Erstens weckt er bei manchem schmerzhafte Erinnerung, und zweitens mag sich jeder selbst ausmalen, zu welchen Höhenflügen sich Frau Meiers vegetarische Phantasien fähig zeigten. Selbst der Mia, der Cora und mir waren die vielen Gurken allmählich zu labbrig, obwohl wir als native Rohköstler ziemlich viel gewohnt sind. Für den Karlsson und den Pit dagegen war es eine Tortour. Irgendwann haben wir die Mädels vorgeschickt, um mal höflich zu fragen, ob es die vegetarische Wellnessküche nur kalt gebe, oder ob wir auch mal was Warmes kriegen könnten. Daraufhin hat Frau Meier uns zwei Tage hintereinander geschmorte Gurken vorgesetzt. Danach hat sich der Karlsson endgültig nur noch vom Frühstücksbrot und vom Nachtisch ernährt. Dem Pit erging es ein wenig besser, da er generell in Ernährungsfragen flexibler ist als der Karlsson, doch auch er musste sich damit abfinden, dass die Küche außerhalb der Essenszeiten abgeschlossen war und sich Raubzüge daher nicht anboten. Seinem geübten Organisationsgeschick war damit eine Grenze gesetzt. Das Küchenfenster ließ sich nicht von außen öffnen.

Am Abend unseres ersten Arbeitstages hätten wir natürlich frei gehabt, so wie jeden der folgenden Abende auch. Doch wir waren noch immer so kaputt, dass wir gleich nach dem Abendessen zurück ins Bett gegangen sind. Na, schönen Dank auch, so hatten wir uns unsern Kurzurlaub vorgestellt.

Am nächsten Morgen erfolgte eine Änderung bei der Arbeitsverteilung. Der Karlsson wurde in die Produktion versetzt. Anna hatte nämlich in der Zwischenzeit die Körbe kontrolliert und festgestellt, dass die Gurken ein mehr oder weniger symmetrisches Lochmuster aufwiesen. Das war entstanden, weil der Karlsson die Gurken mit der Schnauze aufgesammelt hatte – wie auch sonst bei seinen runden Vorderpfoten? Ja, schon recht, hieß es, aber das ändere leider nichts daran, dass die Hälfte der gestrigen Charge unbrauchbar sei und noch bei Nacht kostenlos an die Tierhandlungen und Zoos der Umgebung hatte abgegeben werden müssen. Als wir das hörten, drehte sich der Karlsson einmal kurz weg und grinste fröhlich bis über beide Ohren.

Da er nicht allein arbeiten sollte und ich schnell „Hier!“ gerufen hatte, als nach Unterstützung gefragt worden war, wurden wir beide in ein unbekanntes Gebäude geführt, während die Mädels und der Pit erneut in Richtung Salatgurkenfeld abschoben. Offenbar war Pits Technik, die liegenden Gurken zwischen die Vorderpfoten zu nehmen und sie mit Schwung in den Korb zu schleudern, akzeptabel genug, um dem Firmenruf nicht zu schaden. Die Cora und die Mia trugen jetzt ihre Wanderhüte.

In besagtem Nebengebäude befand sich die Verpackungsstation. Hier mussten wir die Ware auslieferungsfertig machen. Der Karlsson sollte in einer Liste die Anschriften heraussuchen, sie ins Etikettiergerät tippen und die Etiketten dann auf die entsprechenden Kisten kleben. Lange Reihen hoher Stapel warteten auf ihn. Es handelte sich um sogenannte Dauerware, also um Einmachgläser mit Gewürzgurken. Direkt gegenüber hatte ich meine Station. Ich musste Etiketten mit den Barcodes auf die Gurken kleben, direkt auf die Schale. Sie gingen an die Restaurants der Umgebung und mussten am Vormittag fertig sein. Sonst waren wir allein in dem ganzen Raum. Wenigstens hatte man uns ein Radio dagelassen. Das drehten wir auf volle Pulle. Wenn schon, denn schon. Sollten Gurken über Empfindungen verfügen (was ich inzwischen nicht gänzlich ausschließe), so werden ihnen Nirwana und Led Zeppelin gehörig die Poren gereinigt haben. 


In der Abfertigung: meine Karriere Station 1

Um es gleich zu sagen: Nach meiner ersten Schicht kriegte ich ziemlichen Ärger. Mitdenken ist in innovativen Ökobetrieben offenbar unerwünscht. Was hatte ich denn Schlimmes verbrochen? Handelsübliche Klebeetiketten auf unschuldige Gurkenhaut zu pappen, ist schließlich wenig verbraucherfreundlich. Das wird ernstlich niemand bestreiten wollen. Zwar schweißte man hier die Gurken nicht in Plastik ein, so wie man es von anderswoher kennt, und das war schon mal lobenswert, aber hey, Klebstoff ist Klebstoff, nicht wahr? Also habe ich die Etiketten weggelassen und den Barcode direkt mit schwarzem Edding auf die Gurken geschrieben. Erst dachte ich, die Anna wäre so sauer, weil diese schonende Vorgehensweise natürlich etwas mehr Zeit beanspruchte und ich daher um zwei Drittel im Rückstand gelegen hatte, aber da mir der Karlsson später zur Hand gegangen war, hatten wir am Ende doch noch mein Tagespensum erreicht.

Eine erneute Arbeitsverteilung wurde vorgenommen. Ich wurde jetzt der Pickelgurkensortierung zugeführt, und zwar allein, während der Karlsson in der Verpackung blieb und meine Aufgabe miterledigen musste. Bei den Pickelgurken ging es darum, sie nach Größen zu sortieren. Dazu lag ein riesiger Haufen vor mir auf dem Tisch und ich musste jedes Gürkchen in die Hand nehmen und nach links oder rechts oder in die Mitte in den Trog werf... äh … legen. Es war eine reine Handarbeit, ohne Hilfe von irgendeiner Technik oder Chemie. Stinklangweilig, sage ich euch. Und natürlich ließ sich weit und breit niemand blicken. Zur Frühstückpause lag mein Marmeladenbrot auf der Fensterbank, und um kurz vor 13.00 Uhr auf dem Weg zum Mittagessen klopften die andern ans Fenster und nahmen mich mit.

In der Abfertigung: meine Karriere Station 2

Trotzdem haben mich die anderen noch lange blöde angestänkert, weil sie meinten, ich hätte den Hauptgewinn gezogen. Die Mia und die Cora fanden meine Aufgabe weit weniger anstrengend als das Gebücke auf dem Salatgurkenfeld, der Pit zeigte mir seine unfreiwillig angeschwollenen Bizeps vom ständigen Gurkenschleudern und seine abgemagerten Schenkel vom Fleischverzicht, und der Karlsson beschwerte sich bei mir, weil er jetzt doppelt so viel arbeiten müsse, da ich ja in den Sack gehauen und ihn mit meiner Arbeit allein gelassen hätte. Gleichzeitig blieb der Nachtisch aus. Ich glaube zwar nicht, dass es da einen Zusammenhang gab, aber merkwürdig war es schon. Wir waren schließlich angewiesen auf jede Kalorie, die nicht mit Gur... anfing. Allerdings kehrte der tägliche Nachtisch auf wundersame Weise zurück nach weiteren zwei Tagen, in denen ich nicht noch einmal versetzt wurde. Herrlich. In dieser Zeit habe ich Karamellpudding sehr zu schätzen gelernt.

Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell sich der Körper an die einseitige Belastung gewöhnt. Natürlich hatten wir alle regelmäßig Kopf, Rücken, Nacken, Arme oder Knie, doch schon am dritten Tag war die Müdigkeit am Mittag bereits so weit verschwunden, dass wir wieder an eine moderate Form von Freizeitgestaltung denken konnten. Ab 13.00 Uhr hatten wir ja frei. Nur was anfangen hier oben in der Einöde? Wir Jungs haben oft Karten gespielt, stundenlang. Die Mädels haben ausgiebig ihre Fassaden renoviert – mit Gurkenmasken. Gab's ja kostenlos im Überfluss, ha ha ha.

Einmal sind wir spazieren gegangen, die Umgebung erkunden. Mit Wanderhut beziehungsweise Rucksack (dort waren die Marmeladenbrote drin) ging's in den nächsten Wald hinein. Ein Bächlein plätscherte zwischen moosbewachsenen Steinen, die hohen Tannen und andere Bäume spendeten erfrischende Kühle.
„Ja, so erkenne ich es wieder von damals, als ich mit meinen Leuten im Harz war“, meinte der Karlsson.
Er klang seit langem wieder richtig zufrieden, obwohl sein Magen noch immer gelegentlich knurrte. Elastisch tänzelte er vor uns her. Die Mia mit ihren wippenden Fransen am Käppi und die Cora, die sich einen Wanderstock aus dem Unterholz geklaubt hatte, bildeten das Mittelfeld, während ich mit dem Pit die Nachhut machte. Der Angeber schwatze ausgiebig über die erstaunlichen Ähnlichkeiten zwischen seinem Geschäftsführerposten und der Verantwortung, die er täglich bei der tapferen Anna bemerke. Schon seit Tagen überlege er, dem Luke ein ähnliches Konzept vorzuschlagen: Schnupperferien mit Hospitation bei Kakerlakenbefall zum Beispiel, dazu Heilfasten mit Kohlsuppe und therapeutisches Ausmisten der Pferdeställe. Verflixt noch mal, es müsse den Leuten doch die Knete aus der Tasche zu ziehen sein, hier funktioniere es ja auch.

Ja, so muss Wald sein
Dann glitschte die Cora aus. Sie rutschte vom feuchten Moos in den Bach und war plötzlich verschwunden. Das ging so schnell, wir konnten den grünen Klops gerade noch wegtrudeln sehen. Das Wasser hatte hier eine ordentliche Strömung. Vorbei war es mit der Gemütlichkeit, denn Rettung erfordert immer ein gewisses Maß an Hetze. Die Cora konnte jedoch wenig später vom Karlsson ausgemacht werden, der voausgelaufen war und sie an einer Biberstaumauer gefunden hatte. Mit vereinten Kräften haben wir sie aus dem Strom und dem Gestrüpp gezogen. Sie war unversehrt, nur völlig durchnässt.

„Boah, alle Haarpackungen umsonst“, hat die Mia bemerkt.
Rennen mussten wir dann auch noch, weil man uns mit Schlamm bewarf. Der Hausherr, der Biber, war zurückgekehrt und verlangte jetzt Schadensersatz für seine demolierte Staumauer. Ha, aber nicht mit uns! Er konnte froh sein, dass die Cora kostenlos für ihn die Haltbarkeit getestet hatte. Eigentlich hätten wir die Hand aufhalten müssen, nicht umgekehrt. Ja, und dann kriegten wir nasse Erde nachgeworfen.

Abends war es leider immer besonders langweilig. Unsere Gastgeber („Du meinst wohl Ausbeuter“, hat der Karlsson eingewendet) haben wir seit dem ersten Abend nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vielleicht hockten sie hinter irgendeiner Vase und beobachteten uns, möglich, jedenfalls einen aktiven Kontakt zu uns suchten sie nicht. Wenn ich ehrlich bin, hatten wir darauf spekuliert, dass man uns mal eine nette Bowle an die Bank bringt als kleine Anerkennung für des Tages Müh und Last oder meinetwegen eine Tüte Chips, falls die Bowle zu alkoholisch sein sollte für das Öko-Image. Doch nichts dergleichen geschah, keinerlei Weib, Wein und Gesang. Außer der Anna und Frau Meier war uns noch immer kein anderer Mitarbeiter über den Weg gelaufen. An was erinnerte mich das bloß? Ach, ich weiß, an Stephen King: In Wahrheit hatten die Gurken nämlich längst einen unsichtbaren Ring um uns gezogen. Sie würden uns nicht vom Hof lassen. Wir wären Gefangene, dazu verdammt, ihnen die Bundesliga-Ergebnisse vorzulesen, ihnen Champagner in die Kübel zu schütten und sie mit Bauchtanz zu unterhalten. Niemand würde von unserm Elend erfahren, denn niemand wusste, dass es die Farm überhaupt gab, denn sie war unsichtbar für andere.

„Du hast eine verquere Phantasie“, hat der Pit gegähnt.
„Ja, lasst uns schlafen gehen“, hat die Cora vorgeschlagen. „Morgen müssen wir wieder früh raus.“

Immerhin wurde uns für den Sonntag, unsern einzigen freien Tag, ein Ausflug mit dem Transporter angeboten.
„Au ja!“, hat die Mia in die Flügel geklatscht.
Sie hungerte nach der Gelegenheit, endlich ihr neues Parfüm auszuführen. Die Gurken waren ihr dafür kein adäquates Publikum.
Ich fand die Aussicht, mal was anderes zu sehen, auch ganz schön. Wie es hieß, wollte Anna mit uns auf den Brocken fahren, außerdem die bekannte Harz-Hängebrücke besuchen.
„Hängebrücke?“
Der Karlsson schien plötzlich wieder in Alarmmodus verfallen zu sein. Seine Augen waren weit aufgerissen.
„Ja, das ist so ein schmaler Fußweg an Seilen mit Geländer an der Seite. Keine Angst, du rutscht nicht durch die Fugen; da ist Draht drum herum.“
Ich hatte nicht den Eindruck, dass das den Karlsson beruhigt hätte.

Am Sonntagmorgen, als wir vor dem Transporter standen, nachdem Frau Meier uns noch das Paket mit den Marmeladenbroten rausgebracht hatte, und wir gerade einsteigen wollten, habe ich den Karlsson schnell zurückgezogen.
„Bleib hier, Karlsson. Ich bleibe auch hier“, habe ich ihm zugeflüstert
„Wie komme ich dazu?“, hat er geantwortet. „Ich bin froh, dass es mal rausgeht.“
„Du bist doch mein Freund, oder?“
„Klar.“
„Dann vertrau mir. Ich habe einen Plan. Es soll dein Schaden nicht sein. Alles Weitere später.“

Ich gebe zu, für den Karlsson bleib nicht genügend Zeit, um darüber nachzudenken. Die andern waren bereits eingestiegen. Er musste sich rasch entscheiden.
„Ich fahre nicht mit“, habe ich schnell gerufen, um die ganze Sache abzukürzen „Der Karlsson hat wieder  Dünnschiss. Einer muss sich um ihn kümmern.“
„Ach, du Armer“, kam es von der Mia.
Sie miefte süßlich nach Vanille und Moschus.
„Schön blöd“, hat der Pit sich vorgebeugt und hinzugefügt, dass wir dann aber leider den Besuch an der Würstchenbude verpassen würden, der fest eingeplant sei.
Die Cora kramte in ihrem Rucksack, ob sie noch eine Packung „Caque ex“ dabei habe, die sie dem Karlsson geben könne, doch das war offenbar nicht der Fall. Sie zuckte bedauernd die Achseln. Anna schlug die Beifahrertür zu, stieg ein und der Transporter rollte vom Hof. Der Karlsson und ich schauten ihm nach.

Und nun? Abwarten. Erst mal berichte ich von dem Ausflug, was die Mädels und der Pit erlebt hatten und was sie uns erzählten, als sie am späten Nachmittag zurückkehrten. Irgendwie sahen sie etwas verkniffen aus. Nanu, es wird doch alles glatt gelaufen sein? Zum Glück hatten sie die Digicam dabei, so dass ich hier ein paar hübsche Aufnahmen zeigen kann.

Wie gesagt, die erste Etappe führte zum Brocken. Von dem hat jeder schon mal gehört, nicht wahr? Der Brocken ist mit gut 1140 Metern der höchste Berg des Harzes. Er liegt in Sachsen-Anhalt. Manche Touristen nehmen die Brockenbahn, um zum Gipfel zu kommen, doch unsere Truppe kam von der kurzen Seite und hatte ja außerdem den Wagen dabei.

Die Brockenbahn fährt mit Dampf

Von der Aussichtsplattform kann man weit schauen: auf Niedersachsen, Thüringen und eben auf Sachsen-Anhalt, natürlich sofern es nicht nebelig ist. Diese drei Bundesländer teilen sich bekanntlich den Harz. Auch Hexen soll man dort oben begegnen, die auf Besen reiten. Die Cora hat uns aber glaubhaft versichert, dass sie keine gesehen hätten. Vom Pit haben wir erfahren, dass die Anna auf den Parkplatz der Brockenbahnstation gehalten hat und dann für eine Stunde weggefahren ist, damit sich die drei in Ruhe umschauen könnten. Das habe man genutzt, um augenblicklich im nächstgelegenen Gasthaus einzukehren. Was hätten sie sich gefreut! Endlich ein anständiges Jägerschnitzel mit Pommes! Und dann das: Noch bevor sie bestellen konnten, hat die Mia bemerkt, dass ihr Portemonnaie leer war. Stellt euch das mal vor: alle Kohle weg! Keinen Euro mehr, alles geklaut, verloren, futschikato.
 
Furchtbar! Oh, was seien sie enttäuscht gewesen. Wie betäubt sei man aus dem Lokal gekrochen. Weder der Pit noch die Cora hatten Geld dabei, und die Anna anzupumpen, das hätten sie sich auch nicht getraut. Also ist man ein bisschen auf dem Brocken herumgelatscht, hat ein paar Fotos geschossen und sich auf einer Bank die ewigen Marmeladenbrötchen reingestopft, zumindest einen Teil. Den Rest brauchte man ja noch für später.

Vom Brocken: weiter Blick

Anschließend ist die Anna mit ihnen zur besagten Hängebrücke gefahren. Sie steht nicht sehr weit vom Brocken entfernt. Die Touristenattraktion ist noch ziemlich neu, erst 2017 eröffnet. Mit 483 Metern Gesamtlänge ist die Titan RT (so heißt die Brücke) eine der längsten Fußgängerhängebrücken der Welt.

Was macht man, wenn einem ein Elefant entgegenkommt?

Für Höhenschisser ist sie allerdings echt nicht geeignet. Auch wenn der Fußweg komfortable 1,60 breit ist, auch wenn man sich am 1,30 Meter hohen Geländer festhalten kann und obendrein die Seiten durch Edelstahlnetze verschlossen sind, bleibt es doch eine wackelige Abgelegenheit mit viel Platz zum Runtergucken in die Tiefe. Ich kann schon verstehen, dass sich der Karlsson uninteressiert zeigte. Die Cora und die Mia sind nach eigener Aussage einmal die ganze Länge entlanggeflogen und zurück, während der Pit die Strecke gelaufen ist. Man hat einen guten Blick auf die Rappbode-Talsperre. Manche Leute machen dort auch Bangeespringen, aber das wäre natürlich für Vögel nicht sonderlich attraktiv gewesen und der Pit habe auch keine Lust dazu verspürt.
„Dann kommt mir womöglich das Marmeladenbrot hoch“, soll er gesagt haben.

Um zur dritten Etappe zu kommen, hat Anna diesmal ein wenig länger fahren müssen. Es ging nach Süden in die Nähe von Harkerode. Dort sollte eine alte Burg zu besichtigen sein. Laut Infoblättchen stammte sie immerhin aus dem frühen 12. Jahrhundert, war also mittelalterlich und damit ein historisches Gut, das man sicherlich mit viel Liebe und hohen Kosten der Nachwelt zu erhalten getrachtet hatte. Ich muss sagen, als ich das Foto sah, stieg das blanke Entsetzen in mir hoch – und die Empörung. Hatte er es also doch wieder getan! Gepopelt! Kaum war man einmal nicht dabei, hatte einmal nicht aufpassen können, dass er seine Krallen ruhig hielt, und schon lag das ganze Gebäude in Schutt und Asche. Da! Nur noch ein paar Wände stehen:

Burgruine Arnstein: Dazu sage ich jetzt nichts

Ich werde mir schwer überlegen müssen, ob ich den Pit noch einmal unbeaufsichtigt in die Welt lasse. Stellt euch mal vor, es käme eine Schadensersatzklage auf uns zu. Was so eine Burg wohl kostet? Dagegen war der Biber mit seinem dämlichen Staudamm ein Fliegenschiss. Dachte der Pit vielleicht auch mal an uns, in welche prekäre Lage er uns brachte? Nein, natürlich nicht. Stattdessen hatte er dickfällig ein Foto von seiner Tat geschossen und ist mit der Cora und der Mia in Annas Wagen nach Hause gefahren, als wäre nichts gewesen. Und dort hat er uns das Foto gezeigt, so als hätte er noch immer nichts damit zu tun.
„Wieso?“, hat die Mia gefragt. „Er hat doch kein Graffiti reingeritzt. Was regst du dich auf?“

Ich war so außer mir, dass ich mich die ganze Nacht nicht beruhigen konnte. Vergeblich hatten sich die drei nach Karlssons Gesundheitszustand erkundigt und wollten wissen, wie es uns den ganzen Tag ergangen sei. Ich brachte kein Wort heraus, auch der Karlsson hat geschwiegen. Ehrlich gesagt, ging es auch niemanden was an. Nur mein Berufsethos als Reporter, das mich auf Schritt und Tritt zur Wahrheit mahnt, veranlasst mich an dieser Stelle zur einigen Worten der Erklärung.

Es ist so gewesen: Gleich nachdem wir am Morgen dem Transporter mit den Ausflüglern nachgewinkt hatten, habe ich den Karlsson informiert, dass wir jetzt in die Stadt gehen.
„Nach Braunlage?“, hat er gefragt.
„Ja.“
„Zu Fuß?“
„Natürlich.“
„Und was wollen wir da?“
„Fleisch essen.“

Aha, das also sei mein Schachzug: konspirativer Ausbruch ohne unnötige Zeugen. Gut, er sei dabei, er werde mich begleiten, nett, dass ich mich so großmütig um sein Wohlbefinden kümmere, doch dann fiel ihm etwas ein: Wir hatten kein Geld.
„Doch!“, habe ich gegrinst. „Ich habe Geld gefunden.“
„Echt? Wo?“
„Psst! Der Kenner schweigt und genießt.“

Damit uns Frau Meier nicht womöglich beobachtete und vielleicht sogar verpetzte oder zurückhielt, sind wir hinter den Gewächshäusern durch die Gurkenbeete in den Wald gelaufen. Unsern Weg hatte ich aus einem Reiseführer aus der Öko-Bibliothek abgeschaut. Wir mussten lange laufen, sehr lange, meist durch Gehölz, aber auch querfeldein über Wiesen. Als Hund fühlte sich der Karlsson nämlich berufen, Abkürzungen zu wagen, und recht hatte er damit, denn es ging alles glatt.

Tröstlich: Hier würde man gefunden werden, falls man sich verliefe

Es muss Mittag gewesen sein, als wir endlich in Braunlage ankamen. Für die hübschen Häuser, manche aus Fachwerk, blieb keine Zeit zur Bewunderung, denn wir hatten es eilig. Hunger! Hunger! Hunger! Karlssons Blick hatte jetzt die grimmige Entschlossenheit eines jagenden Pumas angenommen. Umso schmerzlicher fühlte ich seine Enttäuschung, als wir feststellen mussten, dass alle Gaststuben geschlossen hatten. Es war doch Ansteckungszeit! Manche Wirtschaften waren gar nicht erst auf Gäste eingestellt, andere hatten am Sonntag Ruhetag, und selbst einen geöffneten Imbiss oder eine Dönerbude haben wir nirgends entdecken können. Selbstverständlich waren am Sonntag auch alle Supermärkte geschlossen. Dem Karlsson ist der Kinnladen runtergeklappt. Auf dem Rückweg hat er kein Wort gesprochen. Wir brauchten auch viel länger, um nach Hause zu kommen, weil es dem Karlsson jetzt an Elan fehlte. Im Grunde ist er nur vor sich hingeschlichen. Den Gurkensalat von Frau Meier haben wir natürlich auch verpasst, denn wir sind ja um 13.00 Uhr auswärts gewesen. Unsere Marmeladenbrote besichtigten gerade den Brocken. Uns rumorte der Magen, den ganzen Nachmittag, bis zum Abendessen. Ich weiß noch, dass sich der Pit gewundert hat, dass es der Karlsson nicht abwarten konnte, den Karamellpudding in sich reinzuschaufeln. Meinen hat er gleich mit gefuttert und Mias dazu. Ich konnte mich ja wenigstens am Salat satt essen.
„Pudding ist gut gegen Durchfall“, hat er müde verkündet.
Damit war das Thema erledigt. Wir haben besagten Sonntag nicht mehr angesprochen und niemand hat uns danach gefragt.

Einen Tag hatten wir noch Gurken zu ernten, Gurken zu sortieren und Etiketten zu kleben. Das würde zu schaffen sein. Wir freuten uns jetzt richtig auf die Heimfahrt am Dienstagmorgen. So schnell haben wir noch nie unsere Rucksäcke gepackt. Selbst der Mia war es egal, dass sie diesmal keine Gelegenheit gefunden hatte, ihren Glitzer-Bikini auszuführen. Im Gegenteil, sie was bester Laune, da sich beim Packen das vermisste Geld wieder anfand. Es lag im Rucksack unter der Tüte Kosmetiktücher.
„Tzzzz, ich muss künftig besser aufpassen“, hat sie verwundert den Kopf geschüttelt.

Unsere Masken hat die Cora schnell noch mit heißem Wasser überbrüht und zum Trocknen auf die Lehne der Bank gelegt. Wir würden die Masken ja jetzt wieder brauchen, nachdem wir (fast) eine Woche ohne herumgelaufen waren. Die offizielle Verabschiedung verlief unkompliziert. Da wir die Firmenbesitzer Caroline und Werner noch immer nicht zu sehen bekommen hatten, haben wir ihnen schöne Grüße ausrichten lassen („Und tschüs!“, hat der Karlsson gekichert). Von Frau Meier kriegte jeder noch eine Marmeladenbrottüte ausgehändigt, Anna hat uns mit dem Transporter zum Sammelpunkt, dem Parkplatz, gefahren. Dort habe ich meine Marmeladenbrote neben den Abfalleimer gekrümelt. Da! Für die Tauben! Der Müll war inzwischen aufgesammelt worden und der Abfalleimer repariert, an dem der Karlsson vor einer Woche so schwungvoll sein dynamisches Karma demonstriert hatte.

Ein Stück weiter entfernt stand der Pit in angeregter Unterhaltung mit Anna. Ob sie Mitglied im Geschäftsführerverein sei, hörte ich ihn fragen.
„Worin?“, hat sie geantwortet.
Ich wartete darauf, dass der Pit jeden Moment eine Visitenkarte zücken würde, stattdessen wurde er von der Cora angetippt:
„Deine Mitfahrgelegenheit ist vorgefahren.“
Es wurde Zeit zum Verabschieden. Ich meine nicht nur von Anna, sondern gegenseitig. Es fuhr ja jeder wieder in seinem eigenen LKW zurück. Der Pit rollte, wie gesagt, als Erster vom Parkplatz, danach stiegen die Mia und ich ein. Die andern winkten uns zu, auch die Anna.
„Ruf mich gleich an, wenn du zu Hause angekommen bist!“, hat die Cora noch hochgeschrien.
„Jaaaa!“, kam es von der Mia zurück.

Was wären wir ohne Puten-Manni und seine Kumpels?

Was sich danach bei den Zurückgebliebenen ereignete, kann ich natürlich nicht mehr aus eigener Anschauung beschreiben. Wir jedenfalls haben unsern Tulpen-Peter gebeten, an der nächsten Raststätte kurz zu halten. Dort sind wir ausgestiegen und haben uns an der Tankstelle zwei Schokoriegel, eine Tüte Gummibeeren und zwei Beefees gekauft. Mann, war das ein Genuss!

Von den andern habe ich später erfahren, dass sie ebenfalls heil daheim angekommen sind. Der Pit sei allerdings von den Seinen ziemlich argwöhnisch beäugt worden. Woher er solche Beulen an den Oberarmen habe und warum seine Beine so dünn seien, hat die Amy wissen wollen. Von der Cora wusste die Mia zu berichten, dass es zu einem Nervenzusammenbruch gekommen sei, nachdem ihr von Tante Gisela zur Begrüßung ein liebevoll zubereiteter Gurkensalat serviert worden war. Die Cora habe gezittert und geschluchzt.

Was die Mia betrifft, so hätte ich mir eine Verlobung oder zumindest ein Kennenlernen mit einem Steinadler gewünscht. Der Harz ist doch voll davon und im Übrigen als neuer Lebensmittelpunkt weit genug von Hannover entfernt. Doch leider hatte es das Schicksal nicht gut mit mir gemeint. Die Mia war vor lauter Arbeit bekanntlich nicht zu amourösem Austausch gekommen. In Zukunft sollten wir daher bei unseren Reisen wieder mehr auf Entspannung und förderliches Ambiente achten.

Der Roosevelt und der Otis sind diesmal erst im November zurückgekehrt, nachdem sie ihren Sommerurlaub in Rumänien überraschend verlängert hatten. Nun, da sie wieder zu Hause sind, verbringen sie die kühlen Tage oft im Freien, manchmal auch die Nächte. Das soll ja sehr gesund sein, es härtet ab. Nebenbei besuchen sie einen Panzerknackerkurs, wo man lernt, wie man von außen verschlossene Fenster und Balkontüren öffnet. Ich wusste gar nicht, dass sie sich für so was interessieren.

Doch zweifellos am härtsten getroffen hat die Gurkenwoche den Karlsson, denn ihm war nicht nur Körpergewicht abhanden gekommen, sondern er hat seitdem Niere. Ja, ihr habt richtig gehört - Niere. Er muss jetzt Diät halten, einen ausgewogenen Speiseplan aus rohem Fleisch, Pansen, Lachs, Innereien und anderen Zutaten einhalten. Ist das nichts schrecklich? Ich frage mich, ob es das wert war. Hätten wir stattdessen eine Ököfrikadellenfarm besucht, wäre das ganz sicher nicht passiert.


Fotos:  
Cora: © G. H.
Karlsson: © Terrierhausen
 

© Max: Papageiengeschichten