Heute ist mir nämlich eine Sünde passiert. Seht ihr das Foto hier unten? Es ist nicht ganz scharf. Es zeigt mich nach dem Einsprühen aus der Wasserflasche. Die Mia muss das jetzt immer kriegen, damit sich ihre Nase besser reinigt. Sie verstopft sonst und die Mia kriegt das Schniefen. Bei der Gelegenheit hat mich die Mama auch gleich ein bisschen nass gemacht. Ich fand das zwar doof, war aber nicht sauer.
Dann sind wir beide, die Mia und ich, nach nebenan auf unsern Kletterbaum geflogen. Die Mama hat ihre Digiknipse rausgeholt und mit dem Blitzlicht herumgefuchtelt. Es war nur bei einem Foto – dem hier, das ich euch zeige. Ich kenn das ja auch schon von früher. Mich stört so was nicht besonders. Aber heute? Tja …
Seht ihr meine verengten Pupillen und meine aufgestellten Stirnfederchen? Das ist ein Zeichen zur Vorsicht. Die Mama weiß das natürlich. Normalerweise bin ich dann trotzdem ganz harmlos, mache nur ‘ne Mörderschau, so als täte ich sonst wie gefährlich sein. Funktioniert gut, besonders bei Fremden, die dann aufquieken und zur Seite hopsen. Das ist voll cool. Ich könnte mich jedes Mal wegschmeißen vor Lachen. Was aber heute in mich gefahren ist, weiß ich auch nicht. Ich bin vom Kletterbaum gesprungen und direkt meiner Mama ins Gesicht hinein. Mit voller Absicht. Hab ich vorher noch nie gemacht.
Gebissen habe ich allerdings nicht, nur ihr mit der Kralle einen Strich übers Kinn gezogen. Die Mama fand es trotzdem nicht komisch. Oh, war die stinkig! Sie kann absolut humorlos sein. Hat den Besen geholt und dann musste ich zusehen, dass ich Land gewinne. Straffliegen nennt sie das. Es täte mir nicht zustehen, den Scharmchef zu attackieren. Ich wäre ganz unten auf der Hierarchieleiter und sie ganz oben. Deshalb müsste ich Manieren lernen, notfalls eben indem mir die Zunge zum Schnabel raushängt. Es ging ein paar Runden durch die Wohnung, dann hat sie mich sitzen lassen und ist rausgegangen.
„Diese Scheißhandaufzuchten“, hat sie noch geschrien.
Ich bin nämlich eine. Ich wurde nicht von meinen leiblichen Eltern aufgezogen so wie die Mia, sondern von Menschen, von meinem Züchter. Meine Mama meint, es wäre total daneben, uns auf den Menschen zu fixieren. Solange wir klein wären, würden wir zwar lieb und kuschelig sein und angenehm im Umgang, eben weil wir die Menschen von klein auf um uns hätten, aber wenn wir dann geschlechtsreif wären, kämen die Probleme. Uns hat schließlich keine Vogelmama und kein Vogelpapa beigebracht, was man als anständiger Papagei wissen muss. Wundert es da, dass wir manches nicht ganz auf die Reihe kriegen?
Ich werde nun erwachsen. Zweimal im Jahr haben wir Hormonstoß. Das ist sowieso eine schwierige Zeit. Die Mia gurkt dann in den Ecken herum und sucht einen Nistplatz, und ich werde … konfus. Es gibt Halter, die in der Balzzeit nur mit einem Papierkorb überm Gesicht ins Vogelzimmer gehen, weil sie sonst angegriffen werden. So viel zu „Ach, sind die süß und sitzen den ganzen Tag brav in ihrem Käfig“. Von wegen. Wir sind Wildtiere mit noch immer gut funktionierenden Instinkten und einem komplexen Sozialleben. Da hat schon so mancher Halter die Augen aufgerissen. Nicht umsonst wird unsereins dann in den Kleinanzeigen angeboten. Junge Kuschelpapageien findet man dort selten, aber geschlechtsreife. Warum wohl?
Haben unsere Menschen die sechs heißen Wochen dann überstanden, sind wir aber wieder so friedlich wie zuvor. Das heißt, wenn vorher schon nicht klar war, wie die Rangfolge aussieht, wird es jetzt auch nicht der Fall sein. Daran hat Mensch eben selbst Schuld.
Nur ich wäre irgendwie verkorkst, meint die Mama. Ich hätte zwar inzwischen viel gelernt von der Mia, also vom natürlichen Amazonenverhalten, aber man würde eben doch merken, dass ich eine Handaufzucht bin. Entscheidende Etappen fehlen nun mal, und die kann auch kein Züchter ersetzen, sondern nur die leiblichen Vogeleltern leisten. Ich werde immer „unlogischer“, je älter ich werde, sagt Mama. Ich wäre hin und her gerissen, wüsste nicht recht, wohin ich gehöre, zum Menschen oder zur meinen Artgenossen.
Nun sitze ich seit heute Mittag auf der Voli und muckse mich nicht. Jaaaaa … ich hab ja inzwischen begriffen, dass das doof war, das mit dem Sprung ins Gesicht. Es gab schließlich keinen wichtigen Grund. Ich musste niemanden verteidigen, und die Mama hatte sich auch weit genug von mir entfernt. Aber meint ihr, sie wird mich jetzt wegschicken? Hinaus in die Nacht? Zu all den dämlichen Roosevelts und Otissen dieser Welt? Muss ich schon meinen Koffer packen? Schreibt ihr mir dann mal nach St. Helga? Vielleicht haben die dort ja auch Internet. Einmal in der Woche handbetrieben per Kurbel würde ja reichen.
Euer ratloser Max
P. S. Kann man diesen lieben Nasenhaaren lange böse sein? *plinker, plinker*
© Max: Papageiengeschichten